Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse
in der Schweiz? Professor O, Johannes Wendland von

-O"^<rvV
"Muser protestantisches Kirchenwesen hat auf dem Kontinent ganz
andere Bahnen eingeschlagen als in England und Amerika. Der
kirchliche Zwang, durch den die anglikanische Staatskirche sich vor
drei Jahrhunderten als die allein berechtigte Kirche zu behaupten
suchte, hat zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit von Dissenter-
kirchen geführt. Dagegen haben die geistigen Strömungen, die seit der Re¬
formation unsere Landeskirchen getroffen haben, keine nennenswerten kirchlichen
Neubildungen erzeugt. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben innerhalb
der Landeskirchen Anhänger wie Gegner gefunden. Nur der ausgehende
Rationalismus hat sich in den Lichtfrennden und Freien Gemeinden der wieder
einsetzenden strengeren Kirchlichkeit erwehrt. Aber diese Bewegung verlor ebenso
wie die der Deutsch-Katholiken sehr bald ihre Bedeutung; denn die sreireligiösen
Gemeinden leben noch heute fast ganz vom Kampf und von der Negation.
Ohne den Gegensatz eines großen, schwerer beweglichen Kirchenkörpers würden
sie von der Bildfläche verschwinden. Ebensowenig haben die durch den Druck
der gewaltsamen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms des Dritten emporgekommenen
Alt-Lutheraner weitere Kreise gewinnen können. Die Sekten innerhalb des
Gebiets der deutschen Landeskirchen sind fremde Gewächse, von England und
Nordamerika importiert. Für den guten deutschen Staatsbürger gehört es zum
guten Ton, daß er der Landeskirche angehört.. Er mag im übrigen über Kirche
und Pastoren schelten; dennoch üben besonders die kirchlichen Handlungen der
Konfirmation, Trauung und Bestattungsfeier ihren stillen Einfluß aus. Diese
Feiern möchte fast niemand entbehren, auch wenn sie bei manchem fast nur den
Wert einer äußeren Dekoration haben. Der stille und nachhaltige Einfluß der
Kirche auf die Gemüter ist doch nicht leicht in seiner Bedeutung zu unterschätzen.
Immerhin sind die wachsenden Austritte aus der Landeskirche, teils zu pietistischen
Gemeinschaftskreisen, teils zu den Dissidenten hin doch beachtenswerte Zeichen,
die die Frage nahe legen, ob eine Reform unserer Kirchenkörper notwendig,
heilsam und möglich ist.




Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse
in der Schweiz? Professor O, Johannes Wendland von

-O«^<rvV
»Muser protestantisches Kirchenwesen hat auf dem Kontinent ganz
andere Bahnen eingeschlagen als in England und Amerika. Der
kirchliche Zwang, durch den die anglikanische Staatskirche sich vor
drei Jahrhunderten als die allein berechtigte Kirche zu behaupten
suchte, hat zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit von Dissenter-
kirchen geführt. Dagegen haben die geistigen Strömungen, die seit der Re¬
formation unsere Landeskirchen getroffen haben, keine nennenswerten kirchlichen
Neubildungen erzeugt. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben innerhalb
der Landeskirchen Anhänger wie Gegner gefunden. Nur der ausgehende
Rationalismus hat sich in den Lichtfrennden und Freien Gemeinden der wieder
einsetzenden strengeren Kirchlichkeit erwehrt. Aber diese Bewegung verlor ebenso
wie die der Deutsch-Katholiken sehr bald ihre Bedeutung; denn die sreireligiösen
Gemeinden leben noch heute fast ganz vom Kampf und von der Negation.
Ohne den Gegensatz eines großen, schwerer beweglichen Kirchenkörpers würden
sie von der Bildfläche verschwinden. Ebensowenig haben die durch den Druck
der gewaltsamen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms des Dritten emporgekommenen
Alt-Lutheraner weitere Kreise gewinnen können. Die Sekten innerhalb des
Gebiets der deutschen Landeskirchen sind fremde Gewächse, von England und
Nordamerika importiert. Für den guten deutschen Staatsbürger gehört es zum
guten Ton, daß er der Landeskirche angehört.. Er mag im übrigen über Kirche
und Pastoren schelten; dennoch üben besonders die kirchlichen Handlungen der
Konfirmation, Trauung und Bestattungsfeier ihren stillen Einfluß aus. Diese
Feiern möchte fast niemand entbehren, auch wenn sie bei manchem fast nur den
Wert einer äußeren Dekoration haben. Der stille und nachhaltige Einfluß der
Kirche auf die Gemüter ist doch nicht leicht in seiner Bedeutung zu unterschätzen.
Immerhin sind die wachsenden Austritte aus der Landeskirche, teils zu pietistischen
Gemeinschaftskreisen, teils zu den Dissidenten hin doch beachtenswerte Zeichen,
die die Frage nahe legen, ob eine Reform unserer Kirchenkörper notwendig,
heilsam und möglich ist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0567" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321652"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_321082/figures/grenzboten_341895_321082_321652_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse<lb/>
in der Schweiz? <note type="byline"> Professor O, Johannes Wendland</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2370"> -O«^&lt;rvV<lb/>
»Muser protestantisches Kirchenwesen hat auf dem Kontinent ganz<lb/>
andere Bahnen eingeschlagen als in England und Amerika. Der<lb/>
kirchliche Zwang, durch den die anglikanische Staatskirche sich vor<lb/>
drei Jahrhunderten als die allein berechtigte Kirche zu behaupten<lb/>
suchte, hat zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit von Dissenter-<lb/>
kirchen geführt. Dagegen haben die geistigen Strömungen, die seit der Re¬<lb/>
formation unsere Landeskirchen getroffen haben, keine nennenswerten kirchlichen<lb/>
Neubildungen erzeugt. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben innerhalb<lb/>
der Landeskirchen Anhänger wie Gegner gefunden. Nur der ausgehende<lb/>
Rationalismus hat sich in den Lichtfrennden und Freien Gemeinden der wieder<lb/>
einsetzenden strengeren Kirchlichkeit erwehrt. Aber diese Bewegung verlor ebenso<lb/>
wie die der Deutsch-Katholiken sehr bald ihre Bedeutung; denn die sreireligiösen<lb/>
Gemeinden leben noch heute fast ganz vom Kampf und von der Negation.<lb/>
Ohne den Gegensatz eines großen, schwerer beweglichen Kirchenkörpers würden<lb/>
sie von der Bildfläche verschwinden. Ebensowenig haben die durch den Druck<lb/>
der gewaltsamen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms des Dritten emporgekommenen<lb/>
Alt-Lutheraner weitere Kreise gewinnen können. Die Sekten innerhalb des<lb/>
Gebiets der deutschen Landeskirchen sind fremde Gewächse, von England und<lb/>
Nordamerika importiert. Für den guten deutschen Staatsbürger gehört es zum<lb/>
guten Ton, daß er der Landeskirche angehört.. Er mag im übrigen über Kirche<lb/>
und Pastoren schelten; dennoch üben besonders die kirchlichen Handlungen der<lb/>
Konfirmation, Trauung und Bestattungsfeier ihren stillen Einfluß aus. Diese<lb/>
Feiern möchte fast niemand entbehren, auch wenn sie bei manchem fast nur den<lb/>
Wert einer äußeren Dekoration haben. Der stille und nachhaltige Einfluß der<lb/>
Kirche auf die Gemüter ist doch nicht leicht in seiner Bedeutung zu unterschätzen.<lb/>
Immerhin sind die wachsenden Austritte aus der Landeskirche, teils zu pietistischen<lb/>
Gemeinschaftskreisen, teils zu den Dissidenten hin doch beachtenswerte Zeichen,<lb/>
die die Frage nahe legen, ob eine Reform unserer Kirchenkörper notwendig,<lb/>
heilsam und möglich ist.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0567] [Abbildung] Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz? Professor O, Johannes Wendland von -O«^<rvV »Muser protestantisches Kirchenwesen hat auf dem Kontinent ganz andere Bahnen eingeschlagen als in England und Amerika. Der kirchliche Zwang, durch den die anglikanische Staatskirche sich vor drei Jahrhunderten als die allein berechtigte Kirche zu behaupten suchte, hat zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit von Dissenter- kirchen geführt. Dagegen haben die geistigen Strömungen, die seit der Re¬ formation unsere Landeskirchen getroffen haben, keine nennenswerten kirchlichen Neubildungen erzeugt. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben innerhalb der Landeskirchen Anhänger wie Gegner gefunden. Nur der ausgehende Rationalismus hat sich in den Lichtfrennden und Freien Gemeinden der wieder einsetzenden strengeren Kirchlichkeit erwehrt. Aber diese Bewegung verlor ebenso wie die der Deutsch-Katholiken sehr bald ihre Bedeutung; denn die sreireligiösen Gemeinden leben noch heute fast ganz vom Kampf und von der Negation. Ohne den Gegensatz eines großen, schwerer beweglichen Kirchenkörpers würden sie von der Bildfläche verschwinden. Ebensowenig haben die durch den Druck der gewaltsamen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms des Dritten emporgekommenen Alt-Lutheraner weitere Kreise gewinnen können. Die Sekten innerhalb des Gebiets der deutschen Landeskirchen sind fremde Gewächse, von England und Nordamerika importiert. Für den guten deutschen Staatsbürger gehört es zum guten Ton, daß er der Landeskirche angehört.. Er mag im übrigen über Kirche und Pastoren schelten; dennoch üben besonders die kirchlichen Handlungen der Konfirmation, Trauung und Bestattungsfeier ihren stillen Einfluß aus. Diese Feiern möchte fast niemand entbehren, auch wenn sie bei manchem fast nur den Wert einer äußeren Dekoration haben. Der stille und nachhaltige Einfluß der Kirche auf die Gemüter ist doch nicht leicht in seiner Bedeutung zu unterschätzen. Immerhin sind die wachsenden Austritte aus der Landeskirche, teils zu pietistischen Gemeinschaftskreisen, teils zu den Dissidenten hin doch beachtenswerte Zeichen, die die Frage nahe legen, ob eine Reform unserer Kirchenkörper notwendig, heilsam und möglich ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/567
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/567>, abgerufen am 26.05.2024.