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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland

als alle Beweise Newtons", und wenn er im sittlichen Egoismus eine Grundlage
für die Erziehung gefunden zu haben glaubt: "Tue nicht, wovon du nicht wünschest,
daß es dir die anderen täten." Ein freier und weiter Geist wie Friedrich war
auch Rousseau, nur daß der eine mit klugem realistischen Blicke das eben
Erreichbare auszumessen und seinem Wirken die notwendige Beschränkung
aufzulegen wußte, während der andere sich ideell über die Schranken des Jetzt
hinwegsetzte, ja sie in der Überschwänglichkeit seiner Seele wohl überhaupt kaum
kannte. So wies auch er in die Zukunft hinein und hat an dem Werden
unserer Kultur sicher nicht den letzten Anteil gehabt, daß ihm auch von uns
aus der Ehrentitel "Erzieher der Menschheit" gebührt.




Zusammenhänge zwischen "Österreich und Deutschland
auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete
Rede des wirkt. Geheimen Rates Präsident Dr. Wilhelm Lxner, gehalten auf
dem Kongreß österreichischer und deutscher Industrieller und Gewerbetreibender

ars ich mit einer geschichtlichen Reminiszenz beginnen? In einem
kürzlich in Österreich erschienenen Lesebuch für Gewerbeschulen ist
ein Aufsatz unter dem Titel "Deutsche Treue" enthalten, der
folgende historische Episode behandelt. Herzog Ludwig von Bayern
^und Friedrich der Schöne von Österreich stritten um die deutsche
Kaiserkrone; bei Mühldorf siegten die Bayern im Jahre 1322 und so entschied
das Schlachtenglück zugunsten Ludwigs. Friedrich wurde als Gefangener auf
die oberpfälzische Festung Trausnitz gebracht. Die Verbündeten des Herzogs
Friedrich, der Papst und andere, setzten den Kampf gegen Ludwig fort. Dieser
besuchte den gefangenen Herzog Friedrich und auf Grund seines Verzichtes kam
eine Aussöhnung und die Aufhebung der Gefangenschaft zustande. Friedrich
versuchte nun seine Parteigänger zum Aufgeben des Streites zu bewegen, und
als ihm dies nicht gelang, kehrte er in die Gefangenschaft freiwillig zurück.
Ludwig von Bayern, gerührt durch diese, "deutsche Treue" bewahrende Hand¬
lungsweise, nahm seinen früheren Gegner als Mitregenten an und beide Fürsten
herrschten gemeinsam über das Deutsche Reich bis zum Tode Friedrichs im
Jahre 1330.

Viele Jahrhunderte sind seither verflossen und mannigfaltig waren die
Geschicke Deutschlands und Österreichs in dieser langen weltgeschichtlichen Epoche,


Grenzboten II 1912 78
Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland

als alle Beweise Newtons", und wenn er im sittlichen Egoismus eine Grundlage
für die Erziehung gefunden zu haben glaubt: „Tue nicht, wovon du nicht wünschest,
daß es dir die anderen täten." Ein freier und weiter Geist wie Friedrich war
auch Rousseau, nur daß der eine mit klugem realistischen Blicke das eben
Erreichbare auszumessen und seinem Wirken die notwendige Beschränkung
aufzulegen wußte, während der andere sich ideell über die Schranken des Jetzt
hinwegsetzte, ja sie in der Überschwänglichkeit seiner Seele wohl überhaupt kaum
kannte. So wies auch er in die Zukunft hinein und hat an dem Werden
unserer Kultur sicher nicht den letzten Anteil gehabt, daß ihm auch von uns
aus der Ehrentitel „Erzieher der Menschheit" gebührt.




Zusammenhänge zwischen «Österreich und Deutschland
auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete
Rede des wirkt. Geheimen Rates Präsident Dr. Wilhelm Lxner, gehalten auf
dem Kongreß österreichischer und deutscher Industrieller und Gewerbetreibender

ars ich mit einer geschichtlichen Reminiszenz beginnen? In einem
kürzlich in Österreich erschienenen Lesebuch für Gewerbeschulen ist
ein Aufsatz unter dem Titel „Deutsche Treue" enthalten, der
folgende historische Episode behandelt. Herzog Ludwig von Bayern
^und Friedrich der Schöne von Österreich stritten um die deutsche
Kaiserkrone; bei Mühldorf siegten die Bayern im Jahre 1322 und so entschied
das Schlachtenglück zugunsten Ludwigs. Friedrich wurde als Gefangener auf
die oberpfälzische Festung Trausnitz gebracht. Die Verbündeten des Herzogs
Friedrich, der Papst und andere, setzten den Kampf gegen Ludwig fort. Dieser
besuchte den gefangenen Herzog Friedrich und auf Grund seines Verzichtes kam
eine Aussöhnung und die Aufhebung der Gefangenschaft zustande. Friedrich
versuchte nun seine Parteigänger zum Aufgeben des Streites zu bewegen, und
als ihm dies nicht gelang, kehrte er in die Gefangenschaft freiwillig zurück.
Ludwig von Bayern, gerührt durch diese, „deutsche Treue" bewahrende Hand¬
lungsweise, nahm seinen früheren Gegner als Mitregenten an und beide Fürsten
herrschten gemeinsam über das Deutsche Reich bis zum Tode Friedrichs im
Jahre 1330.

Viele Jahrhunderte sind seither verflossen und mannigfaltig waren die
Geschicke Deutschlands und Österreichs in dieser langen weltgeschichtlichen Epoche,


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[0625] Zusammenhänge zwischen Österreich und Deutschland als alle Beweise Newtons", und wenn er im sittlichen Egoismus eine Grundlage für die Erziehung gefunden zu haben glaubt: „Tue nicht, wovon du nicht wünschest, daß es dir die anderen täten." Ein freier und weiter Geist wie Friedrich war auch Rousseau, nur daß der eine mit klugem realistischen Blicke das eben Erreichbare auszumessen und seinem Wirken die notwendige Beschränkung aufzulegen wußte, während der andere sich ideell über die Schranken des Jetzt hinwegsetzte, ja sie in der Überschwänglichkeit seiner Seele wohl überhaupt kaum kannte. So wies auch er in die Zukunft hinein und hat an dem Werden unserer Kultur sicher nicht den letzten Anteil gehabt, daß ihm auch von uns aus der Ehrentitel „Erzieher der Menschheit" gebührt. Zusammenhänge zwischen «Österreich und Deutschland auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete Rede des wirkt. Geheimen Rates Präsident Dr. Wilhelm Lxner, gehalten auf dem Kongreß österreichischer und deutscher Industrieller und Gewerbetreibender ars ich mit einer geschichtlichen Reminiszenz beginnen? In einem kürzlich in Österreich erschienenen Lesebuch für Gewerbeschulen ist ein Aufsatz unter dem Titel „Deutsche Treue" enthalten, der folgende historische Episode behandelt. Herzog Ludwig von Bayern ^und Friedrich der Schöne von Österreich stritten um die deutsche Kaiserkrone; bei Mühldorf siegten die Bayern im Jahre 1322 und so entschied das Schlachtenglück zugunsten Ludwigs. Friedrich wurde als Gefangener auf die oberpfälzische Festung Trausnitz gebracht. Die Verbündeten des Herzogs Friedrich, der Papst und andere, setzten den Kampf gegen Ludwig fort. Dieser besuchte den gefangenen Herzog Friedrich und auf Grund seines Verzichtes kam eine Aussöhnung und die Aufhebung der Gefangenschaft zustande. Friedrich versuchte nun seine Parteigänger zum Aufgeben des Streites zu bewegen, und als ihm dies nicht gelang, kehrte er in die Gefangenschaft freiwillig zurück. Ludwig von Bayern, gerührt durch diese, „deutsche Treue" bewahrende Hand¬ lungsweise, nahm seinen früheren Gegner als Mitregenten an und beide Fürsten herrschten gemeinsam über das Deutsche Reich bis zum Tode Friedrichs im Jahre 1330. Viele Jahrhunderte sind seither verflossen und mannigfaltig waren die Geschicke Deutschlands und Österreichs in dieser langen weltgeschichtlichen Epoche, Grenzboten II 1912 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/625>, abgerufen am 26.05.2024.