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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Franziska

Wenige Tage später lauerte ich hoch im Norden, unfern von Wasa, dem
Birkhahn auf. Regungslos kauerte ich am Rande der hochgelegenen Heide in
der Reisighütte, während gegenüber in dem schwanken Gezweig einer Birke der
ausgestopfte Lockvogel schwebte. Fröstelnd und schläfrig schaute ich in das stille
Tagesgrauen. -- Da kam es heran längs des Waldsaums, in schwerem,
gemessenem Trab, dröhnend auf dem harten, trockenen Erdreich: acht hohe
Läufe, darüber gewaltige, gedrungene Leiber und zwei mächtige Häupter mit
riesigen, breiten Geweihschaufeln -- ein Achtzehn- und ein Zwölfender.
Langsamer wurde ihr Schritt vor meinem grünen Versteck, und in höchstens
zehn Meter Entfernung machten sie Halt. Aufmerksam lugten die herrlichen
Tiere nach dem verdächtigen Reisigzelt herüber; bis sie sich schließlich, den Kopf
mit einer Bewegung voll unendlicher Geringschätzung zurückwerfend, langsamen,
majestätischen Schrittes entfernten. Über einem mannshohen Kieferngehölz sah
ich noch minutenlang die starken Geweihäste dahinschweben und endlich im
Hochwald verschwinden.

So war es mir doch wenigstens vergönnt, zwei Vertreter dieses aus¬
sterbenden Königsgeschlechts der nordischen Wälder aus nächster Nähe zu sehen,
sie in ihrem grünen Reiche zu begrüßen!




Franziska von Lritz Reck-Malleczewen

ugust 1912: "Frank Wedekind hat ein neues Werk beendet, das
mit unerhörter Kühnheit an völlig neuen Problemen rührt. Seine
Franziska stellt nichts geringeres dar, als den weiblichen Faust!"

Herbst 1913: "Frank Wedekind hofft aus der Beurteilung
' seiner Franziska durch die Kritik zu vernehmen, wie sich dem Stoff
eine größere Geschlossenheit und Vertiefung abgewinnen lassen könnte."

Zwischen beiden Bulletins liegt das Bühnengeschick Franziskas, die Münchener
und die Berliner Aufführungen. Es ist umgekehrt wie an Bismarcks krieg¬
schwülem Mittagtisch: erst klang es wie Fanfare, jetzt ists Chamade geworden.

Mit Recht. Denn dieses Gefecht ist verloren. Und zwar gründlich. Ge¬
wiß, gewiß, allen Geistes, aller dramatischen Kraft ist auch dieses Werk nicht
bar. Und es ist nicht zu leugnen: seine jähen Kontraste, der plötzliche Wechsel
von der Renaissanceszene zur Simplizissimusgeste, das harte Nebeneinander von
Tragik und Satire -- es findet seine Wirkung. Eine Wirkung, hinter der


Franziska

Wenige Tage später lauerte ich hoch im Norden, unfern von Wasa, dem
Birkhahn auf. Regungslos kauerte ich am Rande der hochgelegenen Heide in
der Reisighütte, während gegenüber in dem schwanken Gezweig einer Birke der
ausgestopfte Lockvogel schwebte. Fröstelnd und schläfrig schaute ich in das stille
Tagesgrauen. — Da kam es heran längs des Waldsaums, in schwerem,
gemessenem Trab, dröhnend auf dem harten, trockenen Erdreich: acht hohe
Läufe, darüber gewaltige, gedrungene Leiber und zwei mächtige Häupter mit
riesigen, breiten Geweihschaufeln — ein Achtzehn- und ein Zwölfender.
Langsamer wurde ihr Schritt vor meinem grünen Versteck, und in höchstens
zehn Meter Entfernung machten sie Halt. Aufmerksam lugten die herrlichen
Tiere nach dem verdächtigen Reisigzelt herüber; bis sie sich schließlich, den Kopf
mit einer Bewegung voll unendlicher Geringschätzung zurückwerfend, langsamen,
majestätischen Schrittes entfernten. Über einem mannshohen Kieferngehölz sah
ich noch minutenlang die starken Geweihäste dahinschweben und endlich im
Hochwald verschwinden.

So war es mir doch wenigstens vergönnt, zwei Vertreter dieses aus¬
sterbenden Königsgeschlechts der nordischen Wälder aus nächster Nähe zu sehen,
sie in ihrem grünen Reiche zu begrüßen!




Franziska von Lritz Reck-Malleczewen

ugust 1912: „Frank Wedekind hat ein neues Werk beendet, das
mit unerhörter Kühnheit an völlig neuen Problemen rührt. Seine
Franziska stellt nichts geringeres dar, als den weiblichen Faust!"

Herbst 1913: „Frank Wedekind hofft aus der Beurteilung
' seiner Franziska durch die Kritik zu vernehmen, wie sich dem Stoff
eine größere Geschlossenheit und Vertiefung abgewinnen lassen könnte."

Zwischen beiden Bulletins liegt das Bühnengeschick Franziskas, die Münchener
und die Berliner Aufführungen. Es ist umgekehrt wie an Bismarcks krieg¬
schwülem Mittagtisch: erst klang es wie Fanfare, jetzt ists Chamade geworden.

Mit Recht. Denn dieses Gefecht ist verloren. Und zwar gründlich. Ge¬
wiß, gewiß, allen Geistes, aller dramatischen Kraft ist auch dieses Werk nicht
bar. Und es ist nicht zu leugnen: seine jähen Kontraste, der plötzliche Wechsel
von der Renaissanceszene zur Simplizissimusgeste, das harte Nebeneinander von
Tragik und Satire — es findet seine Wirkung. Eine Wirkung, hinter der


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[0480] Franziska Wenige Tage später lauerte ich hoch im Norden, unfern von Wasa, dem Birkhahn auf. Regungslos kauerte ich am Rande der hochgelegenen Heide in der Reisighütte, während gegenüber in dem schwanken Gezweig einer Birke der ausgestopfte Lockvogel schwebte. Fröstelnd und schläfrig schaute ich in das stille Tagesgrauen. — Da kam es heran längs des Waldsaums, in schwerem, gemessenem Trab, dröhnend auf dem harten, trockenen Erdreich: acht hohe Läufe, darüber gewaltige, gedrungene Leiber und zwei mächtige Häupter mit riesigen, breiten Geweihschaufeln — ein Achtzehn- und ein Zwölfender. Langsamer wurde ihr Schritt vor meinem grünen Versteck, und in höchstens zehn Meter Entfernung machten sie Halt. Aufmerksam lugten die herrlichen Tiere nach dem verdächtigen Reisigzelt herüber; bis sie sich schließlich, den Kopf mit einer Bewegung voll unendlicher Geringschätzung zurückwerfend, langsamen, majestätischen Schrittes entfernten. Über einem mannshohen Kieferngehölz sah ich noch minutenlang die starken Geweihäste dahinschweben und endlich im Hochwald verschwinden. So war es mir doch wenigstens vergönnt, zwei Vertreter dieses aus¬ sterbenden Königsgeschlechts der nordischen Wälder aus nächster Nähe zu sehen, sie in ihrem grünen Reiche zu begrüßen! Franziska von Lritz Reck-Malleczewen ugust 1912: „Frank Wedekind hat ein neues Werk beendet, das mit unerhörter Kühnheit an völlig neuen Problemen rührt. Seine Franziska stellt nichts geringeres dar, als den weiblichen Faust!" Herbst 1913: „Frank Wedekind hofft aus der Beurteilung ' seiner Franziska durch die Kritik zu vernehmen, wie sich dem Stoff eine größere Geschlossenheit und Vertiefung abgewinnen lassen könnte." Zwischen beiden Bulletins liegt das Bühnengeschick Franziskas, die Münchener und die Berliner Aufführungen. Es ist umgekehrt wie an Bismarcks krieg¬ schwülem Mittagtisch: erst klang es wie Fanfare, jetzt ists Chamade geworden. Mit Recht. Denn dieses Gefecht ist verloren. Und zwar gründlich. Ge¬ wiß, gewiß, allen Geistes, aller dramatischen Kraft ist auch dieses Werk nicht bar. Und es ist nicht zu leugnen: seine jähen Kontraste, der plötzliche Wechsel von der Renaissanceszene zur Simplizissimusgeste, das harte Nebeneinander von Tragik und Satire — es findet seine Wirkung. Eine Wirkung, hinter der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/480>, abgerufen am 27.04.2024.