Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Augustus

und seinen holden und düsteren Rätseln umfängt. Höhen und Tiefen durch¬
messen darf der Dichter und uns mit sich führen zu mancher unzugänglichen
Nische, vor der Schleier hängen, die keines Menschen Hand lüften kann. Dann
wendet sich der Führer und heftet die fragenden Augen auf uns. Denn sie
alle, die uns als unbestechliche Kritiker auf das Unvollkommene der heutigen
Gesellschaftsordnung hinweisen, bekennen uns mit den Worten des Alten aus
Norden: "Ich bin gekommen, viele Fragen zu stellen -- aber nicht, um solche
zu beantworten ..."




Augustus
Lin Märchen
von Hermann Hesse

n der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch
ein Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und
jetzt saß sie arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete
auf ihr Kind, das keinen Vater haben sollte. Und weil sie so
ganz allein war, so verweilten imnier alle ihre Gedanken bei
dem erwarteten Kinde, und es gab nichts Schönes und Herrliches und Be¬
neidenswertes, das sie nicht für dieses Kind ausgedacht und gewünscht und
geträumt hätte. Ein steinernes Haus mit Spiegelscheiben und einem Spring¬
brunnen im Garten schien ihr für den Kleinen gerade gut genug, und was
seine Zukunft anging, so mußte er mindestens ein Professor oder König
werden.

Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur
selten ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer
Troddelmütze und einem grünen Regenschirme, dessen Stangen noch aus Fisch¬
bein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst vor ihm
und die Großen meinten, er werde schon Gründe haben sich so sehr zurückzu¬
ziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber am Abend hörte
man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine feine Musik wie von
sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen. Dann fragten Kinder, wenn
sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da drinnen die Engel oder vielleicht
die Nixen sängen, aber die Mütter wußten nichts davon und sagten: "Nein,
nein, das muß eine Spieldose sein."

Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger
angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von Freund¬
schaft. Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine alte Herr Binß-


Augustus

und seinen holden und düsteren Rätseln umfängt. Höhen und Tiefen durch¬
messen darf der Dichter und uns mit sich führen zu mancher unzugänglichen
Nische, vor der Schleier hängen, die keines Menschen Hand lüften kann. Dann
wendet sich der Führer und heftet die fragenden Augen auf uns. Denn sie
alle, die uns als unbestechliche Kritiker auf das Unvollkommene der heutigen
Gesellschaftsordnung hinweisen, bekennen uns mit den Worten des Alten aus
Norden: „Ich bin gekommen, viele Fragen zu stellen — aber nicht, um solche
zu beantworten ..."




Augustus
Lin Märchen
von Hermann Hesse

n der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch
ein Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und
jetzt saß sie arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete
auf ihr Kind, das keinen Vater haben sollte. Und weil sie so
ganz allein war, so verweilten imnier alle ihre Gedanken bei
dem erwarteten Kinde, und es gab nichts Schönes und Herrliches und Be¬
neidenswertes, das sie nicht für dieses Kind ausgedacht und gewünscht und
geträumt hätte. Ein steinernes Haus mit Spiegelscheiben und einem Spring¬
brunnen im Garten schien ihr für den Kleinen gerade gut genug, und was
seine Zukunft anging, so mußte er mindestens ein Professor oder König
werden.

Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur
selten ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer
Troddelmütze und einem grünen Regenschirme, dessen Stangen noch aus Fisch¬
bein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst vor ihm
und die Großen meinten, er werde schon Gründe haben sich so sehr zurückzu¬
ziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber am Abend hörte
man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine feine Musik wie von
sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen. Dann fragten Kinder, wenn
sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da drinnen die Engel oder vielleicht
die Nixen sängen, aber die Mütter wußten nichts davon und sagten: „Nein,
nein, das muß eine Spieldose sein."

Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger
angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von Freund¬
schaft. Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine alte Herr Binß-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327330"/>
          <fw type="header" place="top"> Augustus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2047" prev="#ID_2046"> und seinen holden und düsteren Rätseln umfängt. Höhen und Tiefen durch¬<lb/>
messen darf der Dichter und uns mit sich führen zu mancher unzugänglichen<lb/>
Nische, vor der Schleier hängen, die keines Menschen Hand lüften kann. Dann<lb/>
wendet sich der Führer und heftet die fragenden Augen auf uns. Denn sie<lb/>
alle, die uns als unbestechliche Kritiker auf das Unvollkommene der heutigen<lb/>
Gesellschaftsordnung hinweisen, bekennen uns mit den Worten des Alten aus<lb/>
Norden: &#x201E;Ich bin gekommen, viele Fragen zu stellen &#x2014; aber nicht, um solche<lb/>
zu beantworten ..."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Augustus<lb/>
Lin Märchen<lb/><note type="byline"> von Hermann Hesse</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_2048"> n der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch<lb/>
ein Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und<lb/>
jetzt saß sie arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete<lb/>
auf ihr Kind, das keinen Vater haben sollte. Und weil sie so<lb/>
ganz allein war, so verweilten imnier alle ihre Gedanken bei<lb/>
dem erwarteten Kinde, und es gab nichts Schönes und Herrliches und Be¬<lb/>
neidenswertes, das sie nicht für dieses Kind ausgedacht und gewünscht und<lb/>
geträumt hätte. Ein steinernes Haus mit Spiegelscheiben und einem Spring¬<lb/>
brunnen im Garten schien ihr für den Kleinen gerade gut genug, und was<lb/>
seine Zukunft anging, so mußte er mindestens ein Professor oder König<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2049"> Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur<lb/>
selten ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer<lb/>
Troddelmütze und einem grünen Regenschirme, dessen Stangen noch aus Fisch¬<lb/>
bein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst vor ihm<lb/>
und die Großen meinten, er werde schon Gründe haben sich so sehr zurückzu¬<lb/>
ziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber am Abend hörte<lb/>
man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine feine Musik wie von<lb/>
sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen. Dann fragten Kinder, wenn<lb/>
sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da drinnen die Engel oder vielleicht<lb/>
die Nixen sängen, aber die Mütter wußten nichts davon und sagten: &#x201E;Nein,<lb/>
nein, das muß eine Spieldose sein."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2050" next="#ID_2051"> Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger<lb/>
angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von Freund¬<lb/>
schaft.  Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine alte Herr Binß-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0518] Augustus und seinen holden und düsteren Rätseln umfängt. Höhen und Tiefen durch¬ messen darf der Dichter und uns mit sich führen zu mancher unzugänglichen Nische, vor der Schleier hängen, die keines Menschen Hand lüften kann. Dann wendet sich der Führer und heftet die fragenden Augen auf uns. Denn sie alle, die uns als unbestechliche Kritiker auf das Unvollkommene der heutigen Gesellschaftsordnung hinweisen, bekennen uns mit den Worten des Alten aus Norden: „Ich bin gekommen, viele Fragen zu stellen — aber nicht, um solche zu beantworten ..." Augustus Lin Märchen von Hermann Hesse n der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch ein Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und jetzt saß sie arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete auf ihr Kind, das keinen Vater haben sollte. Und weil sie so ganz allein war, so verweilten imnier alle ihre Gedanken bei dem erwarteten Kinde, und es gab nichts Schönes und Herrliches und Be¬ neidenswertes, das sie nicht für dieses Kind ausgedacht und gewünscht und geträumt hätte. Ein steinernes Haus mit Spiegelscheiben und einem Spring¬ brunnen im Garten schien ihr für den Kleinen gerade gut genug, und was seine Zukunft anging, so mußte er mindestens ein Professor oder König werden. Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur selten ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer Troddelmütze und einem grünen Regenschirme, dessen Stangen noch aus Fisch¬ bein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst vor ihm und die Großen meinten, er werde schon Gründe haben sich so sehr zurückzu¬ ziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber am Abend hörte man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine feine Musik wie von sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen. Dann fragten Kinder, wenn sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da drinnen die Engel oder vielleicht die Nixen sängen, aber die Mütter wußten nichts davon und sagten: „Nein, nein, das muß eine Spieldose sein." Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von Freund¬ schaft. Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine alte Herr Binß-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/518
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/518>, abgerufen am 28.04.2024.