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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Augustus

wanger grüßte jedesmal auf das Freundlichste, wenn er am Fenster seiner
Nachbarin vorüber kam, und sie nickte ihm wieder dankbar zu und hatte ihn
gern, und beide dachten: "Wenn es mir einmal ganz elend gehen sollte, dann
will ich gewiß im Nachbarhaus um Rat vorsprechen." Und wenn es dunkel
zu werden anfing und die Frau Elisabeth allein an ihrem Fenster saß und um
ihren toten Liebsten trauerte oder an ihr kleines Kindlein dachte und ins
Träumen geriet, dann machte der Herr Binßwanger leise einen Fensterflügel auf,
und aus seiner dunkeln Stube kam leis und silbern eine tröstliche Musik ge"
flössen wie Mondlicht aus einem Wolkenspalt. Hinwieder hatte der Nachbar
an seinem Hinteren Fenster einige alte Geranienstöcke stehen, die er immer zu
gießen vergaß und welche doch immer grün und voll Blumen waren und nie
ein welkes Blatt zeigten, weil sie jeden Tag in aller Frühe von Frau Elisabeth
begossen und gepflegt wurden.

Als es nun gegen den Herbst ging und einmal ein rauher, windiger
Regenabend und kein Mensch in der Mostackerstraße zu sehen war, da merkte
die arme Frau, daß ihre Stunde gekommen sei, und es wurde ihr Angst, weil
fie ganz allein war. Beim Einbruch der Nacht aber kam eine alte Frau mit
einer Handlaterne gegangen, trat in das Haus und kochte Wasser und legte
Leinewand zurecht und tat alles was getan werden muß, wenn ein Kind zur
Welt kommen soll. Frau Elisabeth ließ alles still geschehen, und erst als das
Kindlein da war und in neuen feinen Windeln seinen ersten Erdenschlaf zu
schlummern begann, fragte sie die alte Frau, woher sie denn käme.

"Der Herr Binßwanger hat mich geschickt," sagte die Alte, und darüber
schlief die müde Frau ein, und als sie am Morgen wieder erwachte, da war
Milch für sie gekocht und stand bereit, und alles in der Stube war sauber auf¬
geräumt, und neben ihr lag der kleine Sohn und schrie, weil er Hunger hatte;
aber die alte Frau war fort. Die Mutter nahm ihren Kleinen an die Brust
und freute sich, daß er so hübsch und kräftig war. Sie dachte an seinen toten
Vater, der ihn nicht mehr hatte sehen können, und bekam Tränen in die Augen,
und sie herzte das kleine Waisenkind und mußte wieder lächeln, und darüber
schlief fie samt dem Büblein wieder ein, und als sie aufwachte, war wieder
Milch und eine Suppe gekocht und das Kind in neue Windeln gebunden.

Bald aber war die Mutter wieder gesund und stark und konnte für sich
und den kleinen Augustus selber sorgen, und da kam ihr der Gedanke, daß
nun der Sohn getauft werden müsse und daß sie keinen Paten für ihn habe.
Da ging fie gegen Abend, als es dämmerte und aus dem Nachbarhäuschen
wieder die süße Musik klang, zu dem Herrn Binßwanger hinüber. Sie klopfte
schüchtern an die dunkle Türe, da rief er freundlich Herein und kam ihr entgegen,
die Musik aber war plötzlich zu Ende, und im Zimmer stand eine kleine alte
Tischlampe vor einem Buch und alles war wie bei anderen Leuten.

"Ich bin zu Euch gekommen," sagte Frau Elisabeth, "um Euch zu danken,
weil Ihr mir die gute Frau geschickt habet. Ich will sie auch gerne bezahlen,


Augustus

wanger grüßte jedesmal auf das Freundlichste, wenn er am Fenster seiner
Nachbarin vorüber kam, und sie nickte ihm wieder dankbar zu und hatte ihn
gern, und beide dachten: „Wenn es mir einmal ganz elend gehen sollte, dann
will ich gewiß im Nachbarhaus um Rat vorsprechen." Und wenn es dunkel
zu werden anfing und die Frau Elisabeth allein an ihrem Fenster saß und um
ihren toten Liebsten trauerte oder an ihr kleines Kindlein dachte und ins
Träumen geriet, dann machte der Herr Binßwanger leise einen Fensterflügel auf,
und aus seiner dunkeln Stube kam leis und silbern eine tröstliche Musik ge»
flössen wie Mondlicht aus einem Wolkenspalt. Hinwieder hatte der Nachbar
an seinem Hinteren Fenster einige alte Geranienstöcke stehen, die er immer zu
gießen vergaß und welche doch immer grün und voll Blumen waren und nie
ein welkes Blatt zeigten, weil sie jeden Tag in aller Frühe von Frau Elisabeth
begossen und gepflegt wurden.

Als es nun gegen den Herbst ging und einmal ein rauher, windiger
Regenabend und kein Mensch in der Mostackerstraße zu sehen war, da merkte
die arme Frau, daß ihre Stunde gekommen sei, und es wurde ihr Angst, weil
fie ganz allein war. Beim Einbruch der Nacht aber kam eine alte Frau mit
einer Handlaterne gegangen, trat in das Haus und kochte Wasser und legte
Leinewand zurecht und tat alles was getan werden muß, wenn ein Kind zur
Welt kommen soll. Frau Elisabeth ließ alles still geschehen, und erst als das
Kindlein da war und in neuen feinen Windeln seinen ersten Erdenschlaf zu
schlummern begann, fragte sie die alte Frau, woher sie denn käme.

„Der Herr Binßwanger hat mich geschickt," sagte die Alte, und darüber
schlief die müde Frau ein, und als sie am Morgen wieder erwachte, da war
Milch für sie gekocht und stand bereit, und alles in der Stube war sauber auf¬
geräumt, und neben ihr lag der kleine Sohn und schrie, weil er Hunger hatte;
aber die alte Frau war fort. Die Mutter nahm ihren Kleinen an die Brust
und freute sich, daß er so hübsch und kräftig war. Sie dachte an seinen toten
Vater, der ihn nicht mehr hatte sehen können, und bekam Tränen in die Augen,
und sie herzte das kleine Waisenkind und mußte wieder lächeln, und darüber
schlief fie samt dem Büblein wieder ein, und als sie aufwachte, war wieder
Milch und eine Suppe gekocht und das Kind in neue Windeln gebunden.

Bald aber war die Mutter wieder gesund und stark und konnte für sich
und den kleinen Augustus selber sorgen, und da kam ihr der Gedanke, daß
nun der Sohn getauft werden müsse und daß sie keinen Paten für ihn habe.
Da ging fie gegen Abend, als es dämmerte und aus dem Nachbarhäuschen
wieder die süße Musik klang, zu dem Herrn Binßwanger hinüber. Sie klopfte
schüchtern an die dunkle Türe, da rief er freundlich Herein und kam ihr entgegen,
die Musik aber war plötzlich zu Ende, und im Zimmer stand eine kleine alte
Tischlampe vor einem Buch und alles war wie bei anderen Leuten.

„Ich bin zu Euch gekommen," sagte Frau Elisabeth, „um Euch zu danken,
weil Ihr mir die gute Frau geschickt habet. Ich will sie auch gerne bezahlen,


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[0519] Augustus wanger grüßte jedesmal auf das Freundlichste, wenn er am Fenster seiner Nachbarin vorüber kam, und sie nickte ihm wieder dankbar zu und hatte ihn gern, und beide dachten: „Wenn es mir einmal ganz elend gehen sollte, dann will ich gewiß im Nachbarhaus um Rat vorsprechen." Und wenn es dunkel zu werden anfing und die Frau Elisabeth allein an ihrem Fenster saß und um ihren toten Liebsten trauerte oder an ihr kleines Kindlein dachte und ins Träumen geriet, dann machte der Herr Binßwanger leise einen Fensterflügel auf, und aus seiner dunkeln Stube kam leis und silbern eine tröstliche Musik ge» flössen wie Mondlicht aus einem Wolkenspalt. Hinwieder hatte der Nachbar an seinem Hinteren Fenster einige alte Geranienstöcke stehen, die er immer zu gießen vergaß und welche doch immer grün und voll Blumen waren und nie ein welkes Blatt zeigten, weil sie jeden Tag in aller Frühe von Frau Elisabeth begossen und gepflegt wurden. Als es nun gegen den Herbst ging und einmal ein rauher, windiger Regenabend und kein Mensch in der Mostackerstraße zu sehen war, da merkte die arme Frau, daß ihre Stunde gekommen sei, und es wurde ihr Angst, weil fie ganz allein war. Beim Einbruch der Nacht aber kam eine alte Frau mit einer Handlaterne gegangen, trat in das Haus und kochte Wasser und legte Leinewand zurecht und tat alles was getan werden muß, wenn ein Kind zur Welt kommen soll. Frau Elisabeth ließ alles still geschehen, und erst als das Kindlein da war und in neuen feinen Windeln seinen ersten Erdenschlaf zu schlummern begann, fragte sie die alte Frau, woher sie denn käme. „Der Herr Binßwanger hat mich geschickt," sagte die Alte, und darüber schlief die müde Frau ein, und als sie am Morgen wieder erwachte, da war Milch für sie gekocht und stand bereit, und alles in der Stube war sauber auf¬ geräumt, und neben ihr lag der kleine Sohn und schrie, weil er Hunger hatte; aber die alte Frau war fort. Die Mutter nahm ihren Kleinen an die Brust und freute sich, daß er so hübsch und kräftig war. Sie dachte an seinen toten Vater, der ihn nicht mehr hatte sehen können, und bekam Tränen in die Augen, und sie herzte das kleine Waisenkind und mußte wieder lächeln, und darüber schlief fie samt dem Büblein wieder ein, und als sie aufwachte, war wieder Milch und eine Suppe gekocht und das Kind in neue Windeln gebunden. Bald aber war die Mutter wieder gesund und stark und konnte für sich und den kleinen Augustus selber sorgen, und da kam ihr der Gedanke, daß nun der Sohn getauft werden müsse und daß sie keinen Paten für ihn habe. Da ging fie gegen Abend, als es dämmerte und aus dem Nachbarhäuschen wieder die süße Musik klang, zu dem Herrn Binßwanger hinüber. Sie klopfte schüchtern an die dunkle Türe, da rief er freundlich Herein und kam ihr entgegen, die Musik aber war plötzlich zu Ende, und im Zimmer stand eine kleine alte Tischlampe vor einem Buch und alles war wie bei anderen Leuten. „Ich bin zu Euch gekommen," sagte Frau Elisabeth, „um Euch zu danken, weil Ihr mir die gute Frau geschickt habet. Ich will sie auch gerne bezahlen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/519>, abgerufen am 13.05.2024.