Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

von unberechenbaren Umständen abhängig. Es geht aber doch in allen noch
schwebenden Fragen langsam vorwärts; die Jnselfrage nähert sich der Lösung,
und bald wird wohl auch Prinz Wilhelm von Wied als Fürst von Albanien
seine schwierige und doch für einen edlen und ernsten Willen so verheißungs¬
volle Aufgabe übernehmen.

Und wie steht es mit der Türkei? Wieder einmal hat sich gezeigt, daß
es mit der oft prophezeiten und versuchten Liquidation dieses Staatswesens
noch gute Weile hat. Trotz großer Gebietsverluste in Europa scheint sich die
Türkei aus den inneren Schwankungen, in die sie seit der Beseitigung Abdul
Hamids geraten war, besser herauszuarbeiten, als die meisten erwartet haben.
Und wieder haben die Großmächte sich überzeugt, daß sie ihr eigenes Interesse
am besten wahren, wenn sie der Türkei helfen, sich wieder zu sammeln und
lebensfähig zu bleiben. Ein sehr merkwürdiger Versuch, unter der Maske
strenger Wahrung der internationalen Rechte die Selbständigkeit der Türkei zu
beeinträchtigen, hat sich an die Berufung der deutschen Militärmission geknüpft.
Wie Rußland im Ernst hoffen konnte, mit einem Protest gegen diese Mission
etwas zu erreichen, bleibt noch rätselhaft; es war in jedem Falle ein sehr
unüberlegter Schritt und ein schwerer Fehler, zu dem die russische Diplomatie
vielleicht durch das Bewußtsein früherer Versäumnisse getrieben, vielleicht auch
durch Frankreich aufgeputscht wurde. Bei der Zähigkeit, mit der der Gedanke
von russischer und französischer Seite aufrechterhalten wurde, konnte sich Eng¬
land, das ja selbst mit seiner Marinemission der Türkei gegenüber in gleicher
Lage ist, der Sache nicht entziehen, tat dies aber nur in einer Form, die den
ganzen Schritt unwirksam machte. Es ist nicht recht verständlich, wie deutsche
Politiker in diesem Verhalten Englands eine deutschfeindliche Zweideutigkeit sehen
können. Es ist viel besser so. als wenn Rußland und Frankreich allein irgend¬
einen anderen Schritt gegen die deutschen Interessen unternommen hätten. Wir
kö w. von Massow nnen mit unserer Stellung im Orient wohl zufrieden sein.


Die mexikanischen Wirren l.91.3

Das mexikanische Staatsschiff trieb steuerlos, auf den Wogen der Anarchie,
in das Jahr 1913 hinein. Es ist dem Nachfolger des alten Porfirio Diaz
nicht gelungen, auch nur einen Augenblick Ruhe im Lande zu schaffen. Herr
Madero war seinerzeit der Mann der Vereinigten Staaten von Amerika. Nach
sorgfältiger Vorarbeit und unter Ausnutzung der schweren -- unstreitig vor¬
handenen -- Mißstände des Diazschen Regiments und ihrer Folgen war es
den Männern in Washington gelungen, Porfirio Diaz. den "alten Tyrann",
gerade in dem Augenblick zu beseitigen, wo die gefährliche Konstellation Mexiko-
Japan in der Verwirklichung begriffen war. Madero hatte nichts vom Herrscher
und nichts vom General an sich, er war ein Idealist, jedenfalls im Rahmen
der dortigen Verhältnisse und ungeachtet der Tatsache, daß der amerikanische
Dollar ihm den Weg zur mexikanischen Präsidentschaft gebahnt hatte. Nachdem


Reichsspiegel

von unberechenbaren Umständen abhängig. Es geht aber doch in allen noch
schwebenden Fragen langsam vorwärts; die Jnselfrage nähert sich der Lösung,
und bald wird wohl auch Prinz Wilhelm von Wied als Fürst von Albanien
seine schwierige und doch für einen edlen und ernsten Willen so verheißungs¬
volle Aufgabe übernehmen.

Und wie steht es mit der Türkei? Wieder einmal hat sich gezeigt, daß
es mit der oft prophezeiten und versuchten Liquidation dieses Staatswesens
noch gute Weile hat. Trotz großer Gebietsverluste in Europa scheint sich die
Türkei aus den inneren Schwankungen, in die sie seit der Beseitigung Abdul
Hamids geraten war, besser herauszuarbeiten, als die meisten erwartet haben.
Und wieder haben die Großmächte sich überzeugt, daß sie ihr eigenes Interesse
am besten wahren, wenn sie der Türkei helfen, sich wieder zu sammeln und
lebensfähig zu bleiben. Ein sehr merkwürdiger Versuch, unter der Maske
strenger Wahrung der internationalen Rechte die Selbständigkeit der Türkei zu
beeinträchtigen, hat sich an die Berufung der deutschen Militärmission geknüpft.
Wie Rußland im Ernst hoffen konnte, mit einem Protest gegen diese Mission
etwas zu erreichen, bleibt noch rätselhaft; es war in jedem Falle ein sehr
unüberlegter Schritt und ein schwerer Fehler, zu dem die russische Diplomatie
vielleicht durch das Bewußtsein früherer Versäumnisse getrieben, vielleicht auch
durch Frankreich aufgeputscht wurde. Bei der Zähigkeit, mit der der Gedanke
von russischer und französischer Seite aufrechterhalten wurde, konnte sich Eng¬
land, das ja selbst mit seiner Marinemission der Türkei gegenüber in gleicher
Lage ist, der Sache nicht entziehen, tat dies aber nur in einer Form, die den
ganzen Schritt unwirksam machte. Es ist nicht recht verständlich, wie deutsche
Politiker in diesem Verhalten Englands eine deutschfeindliche Zweideutigkeit sehen
können. Es ist viel besser so. als wenn Rußland und Frankreich allein irgend¬
einen anderen Schritt gegen die deutschen Interessen unternommen hätten. Wir
kö w. von Massow nnen mit unserer Stellung im Orient wohl zufrieden sein.


Die mexikanischen Wirren l.91.3

Das mexikanische Staatsschiff trieb steuerlos, auf den Wogen der Anarchie,
in das Jahr 1913 hinein. Es ist dem Nachfolger des alten Porfirio Diaz
nicht gelungen, auch nur einen Augenblick Ruhe im Lande zu schaffen. Herr
Madero war seinerzeit der Mann der Vereinigten Staaten von Amerika. Nach
sorgfältiger Vorarbeit und unter Ausnutzung der schweren — unstreitig vor¬
handenen — Mißstände des Diazschen Regiments und ihrer Folgen war es
den Männern in Washington gelungen, Porfirio Diaz. den „alten Tyrann",
gerade in dem Augenblick zu beseitigen, wo die gefährliche Konstellation Mexiko-
Japan in der Verwirklichung begriffen war. Madero hatte nichts vom Herrscher
und nichts vom General an sich, er war ein Idealist, jedenfalls im Rahmen
der dortigen Verhältnisse und ungeachtet der Tatsache, daß der amerikanische
Dollar ihm den Weg zur mexikanischen Präsidentschaft gebahnt hatte. Nachdem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0639" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327451"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2542" prev="#ID_2541"> von unberechenbaren Umständen abhängig. Es geht aber doch in allen noch<lb/>
schwebenden Fragen langsam vorwärts; die Jnselfrage nähert sich der Lösung,<lb/>
und bald wird wohl auch Prinz Wilhelm von Wied als Fürst von Albanien<lb/>
seine schwierige und doch für einen edlen und ernsten Willen so verheißungs¬<lb/>
volle Aufgabe übernehmen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2543"> Und wie steht es mit der Türkei?  Wieder einmal hat sich gezeigt, daß<lb/>
es mit der oft prophezeiten und versuchten Liquidation dieses Staatswesens<lb/>
noch gute Weile hat.  Trotz großer Gebietsverluste in Europa scheint sich die<lb/>
Türkei aus den inneren Schwankungen, in die sie seit der Beseitigung Abdul<lb/>
Hamids geraten war, besser herauszuarbeiten, als die meisten erwartet haben.<lb/>
Und wieder haben die Großmächte sich überzeugt, daß sie ihr eigenes Interesse<lb/>
am besten wahren, wenn sie der Türkei helfen, sich wieder zu sammeln und<lb/>
lebensfähig zu bleiben.  Ein sehr merkwürdiger Versuch, unter der Maske<lb/>
strenger Wahrung der internationalen Rechte die Selbständigkeit der Türkei zu<lb/>
beeinträchtigen, hat sich an die Berufung der deutschen Militärmission geknüpft.<lb/>
Wie Rußland im Ernst hoffen konnte, mit einem Protest gegen diese Mission<lb/>
etwas zu erreichen, bleibt noch rätselhaft; es war in jedem Falle ein sehr<lb/>
unüberlegter Schritt und ein schwerer Fehler, zu dem die russische Diplomatie<lb/>
vielleicht durch das Bewußtsein früherer Versäumnisse getrieben, vielleicht auch<lb/>
durch Frankreich aufgeputscht wurde.  Bei der Zähigkeit, mit der der Gedanke<lb/>
von russischer und französischer Seite aufrechterhalten wurde, konnte sich Eng¬<lb/>
land, das ja selbst mit seiner Marinemission der Türkei gegenüber in gleicher<lb/>
Lage ist, der Sache nicht entziehen, tat dies aber nur in einer Form, die den<lb/>
ganzen Schritt unwirksam machte.  Es ist nicht recht verständlich, wie deutsche<lb/>
Politiker in diesem Verhalten Englands eine deutschfeindliche Zweideutigkeit sehen<lb/>
können.  Es ist viel besser so. als wenn Rußland und Frankreich allein irgend¬<lb/>
einen anderen Schritt gegen die deutschen Interessen unternommen hätten. Wir<lb/><note type="byline"> w. von Massow</note> nnen mit unserer Stellung im Orient wohl zufrieden sein. </p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Die mexikanischen Wirren l.91.3</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2544" next="#ID_2545"> Das mexikanische Staatsschiff trieb steuerlos, auf den Wogen der Anarchie,<lb/>
in das Jahr 1913 hinein. Es ist dem Nachfolger des alten Porfirio Diaz<lb/>
nicht gelungen, auch nur einen Augenblick Ruhe im Lande zu schaffen. Herr<lb/>
Madero war seinerzeit der Mann der Vereinigten Staaten von Amerika. Nach<lb/>
sorgfältiger Vorarbeit und unter Ausnutzung der schweren &#x2014; unstreitig vor¬<lb/>
handenen &#x2014; Mißstände des Diazschen Regiments und ihrer Folgen war es<lb/>
den Männern in Washington gelungen, Porfirio Diaz. den &#x201E;alten Tyrann",<lb/>
gerade in dem Augenblick zu beseitigen, wo die gefährliche Konstellation Mexiko-<lb/>
Japan in der Verwirklichung begriffen war. Madero hatte nichts vom Herrscher<lb/>
und nichts vom General an sich, er war ein Idealist, jedenfalls im Rahmen<lb/>
der dortigen Verhältnisse und ungeachtet der Tatsache, daß der amerikanische<lb/>
Dollar ihm den Weg zur mexikanischen Präsidentschaft gebahnt hatte. Nachdem</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0639] Reichsspiegel von unberechenbaren Umständen abhängig. Es geht aber doch in allen noch schwebenden Fragen langsam vorwärts; die Jnselfrage nähert sich der Lösung, und bald wird wohl auch Prinz Wilhelm von Wied als Fürst von Albanien seine schwierige und doch für einen edlen und ernsten Willen so verheißungs¬ volle Aufgabe übernehmen. Und wie steht es mit der Türkei? Wieder einmal hat sich gezeigt, daß es mit der oft prophezeiten und versuchten Liquidation dieses Staatswesens noch gute Weile hat. Trotz großer Gebietsverluste in Europa scheint sich die Türkei aus den inneren Schwankungen, in die sie seit der Beseitigung Abdul Hamids geraten war, besser herauszuarbeiten, als die meisten erwartet haben. Und wieder haben die Großmächte sich überzeugt, daß sie ihr eigenes Interesse am besten wahren, wenn sie der Türkei helfen, sich wieder zu sammeln und lebensfähig zu bleiben. Ein sehr merkwürdiger Versuch, unter der Maske strenger Wahrung der internationalen Rechte die Selbständigkeit der Türkei zu beeinträchtigen, hat sich an die Berufung der deutschen Militärmission geknüpft. Wie Rußland im Ernst hoffen konnte, mit einem Protest gegen diese Mission etwas zu erreichen, bleibt noch rätselhaft; es war in jedem Falle ein sehr unüberlegter Schritt und ein schwerer Fehler, zu dem die russische Diplomatie vielleicht durch das Bewußtsein früherer Versäumnisse getrieben, vielleicht auch durch Frankreich aufgeputscht wurde. Bei der Zähigkeit, mit der der Gedanke von russischer und französischer Seite aufrechterhalten wurde, konnte sich Eng¬ land, das ja selbst mit seiner Marinemission der Türkei gegenüber in gleicher Lage ist, der Sache nicht entziehen, tat dies aber nur in einer Form, die den ganzen Schritt unwirksam machte. Es ist nicht recht verständlich, wie deutsche Politiker in diesem Verhalten Englands eine deutschfeindliche Zweideutigkeit sehen können. Es ist viel besser so. als wenn Rußland und Frankreich allein irgend¬ einen anderen Schritt gegen die deutschen Interessen unternommen hätten. Wir kö w. von Massow nnen mit unserer Stellung im Orient wohl zufrieden sein. Die mexikanischen Wirren l.91.3 Das mexikanische Staatsschiff trieb steuerlos, auf den Wogen der Anarchie, in das Jahr 1913 hinein. Es ist dem Nachfolger des alten Porfirio Diaz nicht gelungen, auch nur einen Augenblick Ruhe im Lande zu schaffen. Herr Madero war seinerzeit der Mann der Vereinigten Staaten von Amerika. Nach sorgfältiger Vorarbeit und unter Ausnutzung der schweren — unstreitig vor¬ handenen — Mißstände des Diazschen Regiments und ihrer Folgen war es den Männern in Washington gelungen, Porfirio Diaz. den „alten Tyrann", gerade in dem Augenblick zu beseitigen, wo die gefährliche Konstellation Mexiko- Japan in der Verwirklichung begriffen war. Madero hatte nichts vom Herrscher und nichts vom General an sich, er war ein Idealist, jedenfalls im Rahmen der dortigen Verhältnisse und ungeachtet der Tatsache, daß der amerikanische Dollar ihm den Weg zur mexikanischen Präsidentschaft gebahnt hatte. Nachdem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/639
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/639>, abgerufen am 28.04.2024.