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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

auch kriegerische Mächte in Europa alsbald sich gezwungen sehen, Friedenspolitik
zu treiben, wenn eine Frage auftaucht, die die Wahrscheinlichkeit erkennen läßt,
daß die mühsam aufgebauten Jnteressegruppen durcheinander geworfen werden.
Eine solche Frage war durch den höchst unbequemen Ausbruch des Balkan¬
krieges gegeben. Hier konnten die Mächte des Dreiverbandes nicht an einem
Strange ziehen, wenn sie nicht zugleich auch mit den Mächten des Dreibundes
freundliche Verständigung suchten. Und diese Überzeugung war von Anfang an
so zwingend, daß eine einigende Formel als Ausgangspunkt und zugleich Schranke
jedes Sonderehrgeizes gefunden werden mußte.

Wenn dadurch verhindert wurde, daß die Balkanwirren die euro¬
päische Mächtegruppierung störten, so folgt daraus nicht, daß nun in
jeder Beziehung Freundschaft und Einigkeit geherrscht hätte. Denn die
Möglichkeit einzelner gefährlicher Interessengegensätze blieb bestehen. Weder
wurde dadurch die französische Feindseligkeit gegen Deutschland beseitigt, noch
die Gefahr eines Konfliktes zwischen Rußland und Österreich - Ungarn ab¬
geschwächt. Dafür gestattete aber die äußere Einigung der beiden Mächte¬
gruppen auch wieder das Zusammengehen solcher Mächte, die ein allgemeines
Interesse daran hatten, Konflikte aus diesem Anlaß überhaupt nicht aufkommen
zu lassen. Auf dieser Grundlage erwuchs die freundschaftliche Zusammenarbeit
von England und Deutschland.

Die kriegerischen Ereignisse auf der Balkanhalbinsel sind sehr reich an
Überraschungen gewesen, und ob die Lösungen, die sie gebracht haben, als
endgültig zu betrachten sind, ist noch sehr fraglich. Vorläufig sind wir doch
aber so weit, daß das Bedürfnis einer ruhigen Entwicklung und einer Er¬
holung von den Opfern der Kriegszeit die Enttäuschungen und Nachegefühle
überwiegt. Wenn noch vor einem Jahr der Glaube vorherrschte, die christlichen
Balkanvölker würden aus der Kriegszeit eine Stärkung ihrer politischen
Aspirationen davontragen, die sie vielleicht veranlassen würden, sich näher
aneinander anzuschließen, so ist das nun anders gekommen. Die einzelnen
Nationalitäten sind weiter voneinander abgerückt, aber ihr innerer Ge¬
winn ist größer, als gemeinhin gewürdigt wird. Erfahrene und tiefer¬
blickende Kenner dieser Länder versichern, es sei erstaunlich, wieviel von der
politischen Demoralisation aus der Zeit der Türkenherrschaft und aus den
ersten Anfängen modernstaatlicher Selbständigkeit in der Kriegszeit abgestreift
worden sei. Besonders soll man den Aufschwung Griechenlands nicht unter¬
schätzen. Nicht minder bemerkenswert ist die Befestigung und Steigerung des
politischen Ansehens, das Rumänien durch seine kluge Mäßigung und Energie
verbindende, besonnenes Abwarten mit entschlossenem Eingreifen vereinigende
Politik zu verzeichnen hat. Man wird aber gut tun, die Untersuchungen über
die Frage der Beziehungen der einzelnen Balkanstaaten zueinander und zu den
Großmächten noch zu vertagen, so groß auch die Versuchung sein mag, sich
gerade damit zu beschäftigen. Denn hier ist wohl noch alles schwankend und


Reichsspiegel

auch kriegerische Mächte in Europa alsbald sich gezwungen sehen, Friedenspolitik
zu treiben, wenn eine Frage auftaucht, die die Wahrscheinlichkeit erkennen läßt,
daß die mühsam aufgebauten Jnteressegruppen durcheinander geworfen werden.
Eine solche Frage war durch den höchst unbequemen Ausbruch des Balkan¬
krieges gegeben. Hier konnten die Mächte des Dreiverbandes nicht an einem
Strange ziehen, wenn sie nicht zugleich auch mit den Mächten des Dreibundes
freundliche Verständigung suchten. Und diese Überzeugung war von Anfang an
so zwingend, daß eine einigende Formel als Ausgangspunkt und zugleich Schranke
jedes Sonderehrgeizes gefunden werden mußte.

Wenn dadurch verhindert wurde, daß die Balkanwirren die euro¬
päische Mächtegruppierung störten, so folgt daraus nicht, daß nun in
jeder Beziehung Freundschaft und Einigkeit geherrscht hätte. Denn die
Möglichkeit einzelner gefährlicher Interessengegensätze blieb bestehen. Weder
wurde dadurch die französische Feindseligkeit gegen Deutschland beseitigt, noch
die Gefahr eines Konfliktes zwischen Rußland und Österreich - Ungarn ab¬
geschwächt. Dafür gestattete aber die äußere Einigung der beiden Mächte¬
gruppen auch wieder das Zusammengehen solcher Mächte, die ein allgemeines
Interesse daran hatten, Konflikte aus diesem Anlaß überhaupt nicht aufkommen
zu lassen. Auf dieser Grundlage erwuchs die freundschaftliche Zusammenarbeit
von England und Deutschland.

Die kriegerischen Ereignisse auf der Balkanhalbinsel sind sehr reich an
Überraschungen gewesen, und ob die Lösungen, die sie gebracht haben, als
endgültig zu betrachten sind, ist noch sehr fraglich. Vorläufig sind wir doch
aber so weit, daß das Bedürfnis einer ruhigen Entwicklung und einer Er¬
holung von den Opfern der Kriegszeit die Enttäuschungen und Nachegefühle
überwiegt. Wenn noch vor einem Jahr der Glaube vorherrschte, die christlichen
Balkanvölker würden aus der Kriegszeit eine Stärkung ihrer politischen
Aspirationen davontragen, die sie vielleicht veranlassen würden, sich näher
aneinander anzuschließen, so ist das nun anders gekommen. Die einzelnen
Nationalitäten sind weiter voneinander abgerückt, aber ihr innerer Ge¬
winn ist größer, als gemeinhin gewürdigt wird. Erfahrene und tiefer¬
blickende Kenner dieser Länder versichern, es sei erstaunlich, wieviel von der
politischen Demoralisation aus der Zeit der Türkenherrschaft und aus den
ersten Anfängen modernstaatlicher Selbständigkeit in der Kriegszeit abgestreift
worden sei. Besonders soll man den Aufschwung Griechenlands nicht unter¬
schätzen. Nicht minder bemerkenswert ist die Befestigung und Steigerung des
politischen Ansehens, das Rumänien durch seine kluge Mäßigung und Energie
verbindende, besonnenes Abwarten mit entschlossenem Eingreifen vereinigende
Politik zu verzeichnen hat. Man wird aber gut tun, die Untersuchungen über
die Frage der Beziehungen der einzelnen Balkanstaaten zueinander und zu den
Großmächten noch zu vertagen, so groß auch die Versuchung sein mag, sich
gerade damit zu beschäftigen. Denn hier ist wohl noch alles schwankend und


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[0638] Reichsspiegel auch kriegerische Mächte in Europa alsbald sich gezwungen sehen, Friedenspolitik zu treiben, wenn eine Frage auftaucht, die die Wahrscheinlichkeit erkennen läßt, daß die mühsam aufgebauten Jnteressegruppen durcheinander geworfen werden. Eine solche Frage war durch den höchst unbequemen Ausbruch des Balkan¬ krieges gegeben. Hier konnten die Mächte des Dreiverbandes nicht an einem Strange ziehen, wenn sie nicht zugleich auch mit den Mächten des Dreibundes freundliche Verständigung suchten. Und diese Überzeugung war von Anfang an so zwingend, daß eine einigende Formel als Ausgangspunkt und zugleich Schranke jedes Sonderehrgeizes gefunden werden mußte. Wenn dadurch verhindert wurde, daß die Balkanwirren die euro¬ päische Mächtegruppierung störten, so folgt daraus nicht, daß nun in jeder Beziehung Freundschaft und Einigkeit geherrscht hätte. Denn die Möglichkeit einzelner gefährlicher Interessengegensätze blieb bestehen. Weder wurde dadurch die französische Feindseligkeit gegen Deutschland beseitigt, noch die Gefahr eines Konfliktes zwischen Rußland und Österreich - Ungarn ab¬ geschwächt. Dafür gestattete aber die äußere Einigung der beiden Mächte¬ gruppen auch wieder das Zusammengehen solcher Mächte, die ein allgemeines Interesse daran hatten, Konflikte aus diesem Anlaß überhaupt nicht aufkommen zu lassen. Auf dieser Grundlage erwuchs die freundschaftliche Zusammenarbeit von England und Deutschland. Die kriegerischen Ereignisse auf der Balkanhalbinsel sind sehr reich an Überraschungen gewesen, und ob die Lösungen, die sie gebracht haben, als endgültig zu betrachten sind, ist noch sehr fraglich. Vorläufig sind wir doch aber so weit, daß das Bedürfnis einer ruhigen Entwicklung und einer Er¬ holung von den Opfern der Kriegszeit die Enttäuschungen und Nachegefühle überwiegt. Wenn noch vor einem Jahr der Glaube vorherrschte, die christlichen Balkanvölker würden aus der Kriegszeit eine Stärkung ihrer politischen Aspirationen davontragen, die sie vielleicht veranlassen würden, sich näher aneinander anzuschließen, so ist das nun anders gekommen. Die einzelnen Nationalitäten sind weiter voneinander abgerückt, aber ihr innerer Ge¬ winn ist größer, als gemeinhin gewürdigt wird. Erfahrene und tiefer¬ blickende Kenner dieser Länder versichern, es sei erstaunlich, wieviel von der politischen Demoralisation aus der Zeit der Türkenherrschaft und aus den ersten Anfängen modernstaatlicher Selbständigkeit in der Kriegszeit abgestreift worden sei. Besonders soll man den Aufschwung Griechenlands nicht unter¬ schätzen. Nicht minder bemerkenswert ist die Befestigung und Steigerung des politischen Ansehens, das Rumänien durch seine kluge Mäßigung und Energie verbindende, besonnenes Abwarten mit entschlossenem Eingreifen vereinigende Politik zu verzeichnen hat. Man wird aber gut tun, die Untersuchungen über die Frage der Beziehungen der einzelnen Balkanstaaten zueinander und zu den Großmächten noch zu vertagen, so groß auch die Versuchung sein mag, sich gerade damit zu beschäftigen. Denn hier ist wohl noch alles schwankend und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/638>, abgerufen am 13.05.2024.