Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Neue Bücher über Musik
Geschichtliches
von Dr. R. Hohenemser

s ist seltsam, daß die Schwierigkeit und Verantwortlichkeit der
Aufgabe, die Ergebnisse der Wissenschaft zu popularisieren, vielfach
durchaus verkannt wird. Es scheint, man meint vielfach, popula¬
risieren sei gleichbedeutend mit kompilieren, und erwägt nicht, daß
zur gemeinverständlichen Darstellung dessen, was andere ermittelt
und gedacht haben, zwar nicht selbständige Forschung, wohl aber selbständiges,
auf gründlicher Sachkenntnis beruhendes Urteil gehört. Freilich haben gerade
auf populärwissenschaftlichen Gebiete häufig die schlechtesten Bücher den größten
buchhändlerischen Erfolg. Diesem Übelstande wäre nur abzuhelfen, wenn sich
Autoren, welche die oben bezeichnete Forderung erfüllen und zugleich über eine
ansprechende Darstellungsweise verfügen, mehr als bisher der Popularisierung
der Wissenschaft zuwendeten.

Als Beispiel eines offenbar erfolgreichen und in dem angeführten Sinne
minderwertigen Buches kann die Musikgeschichte von Hans Merian dienen
(Illustrierte Geschichte der Musik von der Renaissance bis zur Gegen¬
wart, von Hans Merian, dritte erweiterte Auflage von Bernhard Egg;
Otto Spamer, Leipzig 1914). Gänzlich unbrauchbar ist die Einleitung, welche
die Tonkunst voni griechischen Altertum bis zur Renaissance behandelt. Ans den hier
zusammengetragenen Brocken wird kein Leser eine auch nur einigermaßen klare
Vorstellung von der Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis zum sechzehnten Jahr¬
hundert gewinnen können. Ausführlicher und nicht so verschwommen gehalten
ist der Hauptteil des Buches. Aber seltsamerweise sollen die Kapitel, die uns
von der Renaissance bis zu Beethoven führen, nur als Vorbereitung aus die
Darstellung dieses Meisters dienen. Da jeder schaffende Künstler irgendwie an
seine Vorgänger anknüpft, so ist er durch die gesamte Geschichte seiner Kunst
vorbereitet. Es hat aber keinen Sinn, eine spezielle Vorbereitung auf Beethoven
etwa mit Palestrina und Orlando Lasso beginnen zu lassen; vielmehr wäre
eine solche erst im achtzehnten Jahrhundert, bei PH. E. Bach, Haydn, Mozart
und deren Vorläufern, zu suchen. Im Vorwort wird behauptet, die Ent¬
wicklung der Tonkunst sei überall mit der allgemeinen Kulturentwicklung in




Neue Bücher über Musik
Geschichtliches
von Dr. R. Hohenemser

s ist seltsam, daß die Schwierigkeit und Verantwortlichkeit der
Aufgabe, die Ergebnisse der Wissenschaft zu popularisieren, vielfach
durchaus verkannt wird. Es scheint, man meint vielfach, popula¬
risieren sei gleichbedeutend mit kompilieren, und erwägt nicht, daß
zur gemeinverständlichen Darstellung dessen, was andere ermittelt
und gedacht haben, zwar nicht selbständige Forschung, wohl aber selbständiges,
auf gründlicher Sachkenntnis beruhendes Urteil gehört. Freilich haben gerade
auf populärwissenschaftlichen Gebiete häufig die schlechtesten Bücher den größten
buchhändlerischen Erfolg. Diesem Übelstande wäre nur abzuhelfen, wenn sich
Autoren, welche die oben bezeichnete Forderung erfüllen und zugleich über eine
ansprechende Darstellungsweise verfügen, mehr als bisher der Popularisierung
der Wissenschaft zuwendeten.

Als Beispiel eines offenbar erfolgreichen und in dem angeführten Sinne
minderwertigen Buches kann die Musikgeschichte von Hans Merian dienen
(Illustrierte Geschichte der Musik von der Renaissance bis zur Gegen¬
wart, von Hans Merian, dritte erweiterte Auflage von Bernhard Egg;
Otto Spamer, Leipzig 1914). Gänzlich unbrauchbar ist die Einleitung, welche
die Tonkunst voni griechischen Altertum bis zur Renaissance behandelt. Ans den hier
zusammengetragenen Brocken wird kein Leser eine auch nur einigermaßen klare
Vorstellung von der Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis zum sechzehnten Jahr¬
hundert gewinnen können. Ausführlicher und nicht so verschwommen gehalten
ist der Hauptteil des Buches. Aber seltsamerweise sollen die Kapitel, die uns
von der Renaissance bis zu Beethoven führen, nur als Vorbereitung aus die
Darstellung dieses Meisters dienen. Da jeder schaffende Künstler irgendwie an
seine Vorgänger anknüpft, so ist er durch die gesamte Geschichte seiner Kunst
vorbereitet. Es hat aber keinen Sinn, eine spezielle Vorbereitung auf Beethoven
etwa mit Palestrina und Orlando Lasso beginnen zu lassen; vielmehr wäre
eine solche erst im achtzehnten Jahrhundert, bei PH. E. Bach, Haydn, Mozart
und deren Vorläufern, zu suchen. Im Vorwort wird behauptet, die Ent¬
wicklung der Tonkunst sei überall mit der allgemeinen Kulturentwicklung in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0384" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328484"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328099/figures/grenzboten_341899_328099_328484_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Neue Bücher über Musik<lb/>
Geschichtliches<lb/><note type="byline"> von Dr. R. Hohenemser</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1556"> s ist seltsam, daß die Schwierigkeit und Verantwortlichkeit der<lb/>
Aufgabe, die Ergebnisse der Wissenschaft zu popularisieren, vielfach<lb/>
durchaus verkannt wird. Es scheint, man meint vielfach, popula¬<lb/>
risieren sei gleichbedeutend mit kompilieren, und erwägt nicht, daß<lb/>
zur gemeinverständlichen Darstellung dessen, was andere ermittelt<lb/>
und gedacht haben, zwar nicht selbständige Forschung, wohl aber selbständiges,<lb/>
auf gründlicher Sachkenntnis beruhendes Urteil gehört. Freilich haben gerade<lb/>
auf populärwissenschaftlichen Gebiete häufig die schlechtesten Bücher den größten<lb/>
buchhändlerischen Erfolg. Diesem Übelstande wäre nur abzuhelfen, wenn sich<lb/>
Autoren, welche die oben bezeichnete Forderung erfüllen und zugleich über eine<lb/>
ansprechende Darstellungsweise verfügen, mehr als bisher der Popularisierung<lb/>
der Wissenschaft zuwendeten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1557" next="#ID_1558"> Als Beispiel eines offenbar erfolgreichen und in dem angeführten Sinne<lb/>
minderwertigen Buches kann die Musikgeschichte von Hans Merian dienen<lb/>
(Illustrierte Geschichte der Musik von der Renaissance bis zur Gegen¬<lb/>
wart, von Hans Merian, dritte erweiterte Auflage von Bernhard Egg;<lb/>
Otto Spamer, Leipzig 1914). Gänzlich unbrauchbar ist die Einleitung, welche<lb/>
die Tonkunst voni griechischen Altertum bis zur Renaissance behandelt. Ans den hier<lb/>
zusammengetragenen Brocken wird kein Leser eine auch nur einigermaßen klare<lb/>
Vorstellung von der Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis zum sechzehnten Jahr¬<lb/>
hundert gewinnen können. Ausführlicher und nicht so verschwommen gehalten<lb/>
ist der Hauptteil des Buches. Aber seltsamerweise sollen die Kapitel, die uns<lb/>
von der Renaissance bis zu Beethoven führen, nur als Vorbereitung aus die<lb/>
Darstellung dieses Meisters dienen. Da jeder schaffende Künstler irgendwie an<lb/>
seine Vorgänger anknüpft, so ist er durch die gesamte Geschichte seiner Kunst<lb/>
vorbereitet. Es hat aber keinen Sinn, eine spezielle Vorbereitung auf Beethoven<lb/>
etwa mit Palestrina und Orlando Lasso beginnen zu lassen; vielmehr wäre<lb/>
eine solche erst im achtzehnten Jahrhundert, bei PH. E. Bach, Haydn, Mozart<lb/>
und deren Vorläufern, zu suchen. Im Vorwort wird behauptet, die Ent¬<lb/>
wicklung der Tonkunst sei überall mit der allgemeinen Kulturentwicklung in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0384] [Abbildung] Neue Bücher über Musik Geschichtliches von Dr. R. Hohenemser s ist seltsam, daß die Schwierigkeit und Verantwortlichkeit der Aufgabe, die Ergebnisse der Wissenschaft zu popularisieren, vielfach durchaus verkannt wird. Es scheint, man meint vielfach, popula¬ risieren sei gleichbedeutend mit kompilieren, und erwägt nicht, daß zur gemeinverständlichen Darstellung dessen, was andere ermittelt und gedacht haben, zwar nicht selbständige Forschung, wohl aber selbständiges, auf gründlicher Sachkenntnis beruhendes Urteil gehört. Freilich haben gerade auf populärwissenschaftlichen Gebiete häufig die schlechtesten Bücher den größten buchhändlerischen Erfolg. Diesem Übelstande wäre nur abzuhelfen, wenn sich Autoren, welche die oben bezeichnete Forderung erfüllen und zugleich über eine ansprechende Darstellungsweise verfügen, mehr als bisher der Popularisierung der Wissenschaft zuwendeten. Als Beispiel eines offenbar erfolgreichen und in dem angeführten Sinne minderwertigen Buches kann die Musikgeschichte von Hans Merian dienen (Illustrierte Geschichte der Musik von der Renaissance bis zur Gegen¬ wart, von Hans Merian, dritte erweiterte Auflage von Bernhard Egg; Otto Spamer, Leipzig 1914). Gänzlich unbrauchbar ist die Einleitung, welche die Tonkunst voni griechischen Altertum bis zur Renaissance behandelt. Ans den hier zusammengetragenen Brocken wird kein Leser eine auch nur einigermaßen klare Vorstellung von der Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis zum sechzehnten Jahr¬ hundert gewinnen können. Ausführlicher und nicht so verschwommen gehalten ist der Hauptteil des Buches. Aber seltsamerweise sollen die Kapitel, die uns von der Renaissance bis zu Beethoven führen, nur als Vorbereitung aus die Darstellung dieses Meisters dienen. Da jeder schaffende Künstler irgendwie an seine Vorgänger anknüpft, so ist er durch die gesamte Geschichte seiner Kunst vorbereitet. Es hat aber keinen Sinn, eine spezielle Vorbereitung auf Beethoven etwa mit Palestrina und Orlando Lasso beginnen zu lassen; vielmehr wäre eine solche erst im achtzehnten Jahrhundert, bei PH. E. Bach, Haydn, Mozart und deren Vorläufern, zu suchen. Im Vorwort wird behauptet, die Ent¬ wicklung der Tonkunst sei überall mit der allgemeinen Kulturentwicklung in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/384
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/384>, abgerufen am 04.05.2024.