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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

Zusammenhang gebracht worden; doch ist davon im Buche sehr wenig zu
bemerken.

Um zu zeigen, daß neben dem Geist der Oberflächlichkeit auch durchaus
falsche, aber leider weitverbreitete und darum gefährliche Kunstanschauungen in
dieser Musikgeschichte ihr Wesen treiben, will ich nur zwei Einzelheiten an¬
führen. Das von den Ausbeutern schon so oft mißhandelte Scherzo der "Eroica"
erführe hier eine neue Interpretation: es soll das boshafte Geklatsch der Menge
über den Helden darstellen. Wann wird man endlich aufhören, die Tonkunst
auf solche und ähnliche Weise in den Staub zu ziehen? Bei Besprechung von
Brahms' Schaffen wird mit Recht die Hinwendung zu Bach und zu den
Meistern des sechzehnten Jahrhunderts hervorgehoben; aber daraus wird
gefolgert, Brahms stehe nicht in der geraden Linie des Fortschrittes über
Beethoven hinaus; diese sei vielmehr durch Berlioz, Liszt und Wagner be¬
zeichnet.

Von der Neuheit und Eigenheit, von der Modernität der Brahmsschen
Musik haben die Verfasser also keine Ahnung, und außerdem haben sie nicht
begriffen, daß es über ein vollendetes Kunstwerk hinaus keinen Fortschritt
geben, daß man vielmehr nur neben dasselbe andere, neue und in ihrer Art
wieder vollendete Kunstwerke stellen kann, und daß das Neue und eigenartig
Wertvolle weit weniger auf der Anwendung neuer Formen und Mittel als auf
der Beschaffenheit der musikalischen Gedanken selbst beruht.

Ein würdiges Seitenstück zu Merians Musikgeschichte bildet auf dem
Spezialgebiet der Oper ein Buch von Klob (Karl Maria Klob, Die Oper von
Gluck bis Wagner; Ulm, H. Kerker. 1913), der uns freilich versichert, er habe
alle besprochenen Werke in der Partitur oder in, Klavierauszug vor Augen gehabt
und selbständig beurteilt. Nichtsdestoweniger läßt sich ihm, selbst abgesehen von
der auch hier völlig wertlosen Einleitung, welche die Oper vor Gluck bespricht,
leicht nachweisen, daß er nach schlechten Schablonen gearbeitet hat. Wie könnte
er sonst beispielsweise behaupten, Beethoven schließe sich mit "Fidelio" an Mozart
an, während doch längst bekannt ist, daß "Fidclio", wie er textlich zur Gattung
der französischen Dialogoper gehört, so auch musikalisch nichts Mozartisches,
wohl aber vieles von Cherubini enthält! Man darf ruhig sagen, daß er auch
ohne die Existenz der Mozartschen Opern so geworden wäre wie er ist. Webers
"Oberon" behandelt Klob in Übereinstimmung mit manchen fanatischen
Wagnerianern verächtlich, weil er in der Verwendung des gesprochenen Wortes
einen Rückschritt gegen die durchkomponierte "Euryanthe" erblickt. Also auch
hier werden Äußerlichkeiten zu künstlerischen Wertmaßstäben erhoben.

Unvergleichlich höher als die eben besprochenen Bücher steht die in der
Sammlung Göschen erschienene Musikgeschichte des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts von Grunsky. Ihr ursprünglicher Umfang von nur einem Bändchen
ist jetzt auf drei erweitert worden, von denen mir die beiden ersten vorliegen (or.Karl
Grunsky, Musikgeschichte des siebzehntenJahrhunderts, zweitevöllig


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Zusammenhang gebracht worden; doch ist davon im Buche sehr wenig zu
bemerken.

Um zu zeigen, daß neben dem Geist der Oberflächlichkeit auch durchaus
falsche, aber leider weitverbreitete und darum gefährliche Kunstanschauungen in
dieser Musikgeschichte ihr Wesen treiben, will ich nur zwei Einzelheiten an¬
führen. Das von den Ausbeutern schon so oft mißhandelte Scherzo der „Eroica"
erführe hier eine neue Interpretation: es soll das boshafte Geklatsch der Menge
über den Helden darstellen. Wann wird man endlich aufhören, die Tonkunst
auf solche und ähnliche Weise in den Staub zu ziehen? Bei Besprechung von
Brahms' Schaffen wird mit Recht die Hinwendung zu Bach und zu den
Meistern des sechzehnten Jahrhunderts hervorgehoben; aber daraus wird
gefolgert, Brahms stehe nicht in der geraden Linie des Fortschrittes über
Beethoven hinaus; diese sei vielmehr durch Berlioz, Liszt und Wagner be¬
zeichnet.

Von der Neuheit und Eigenheit, von der Modernität der Brahmsschen
Musik haben die Verfasser also keine Ahnung, und außerdem haben sie nicht
begriffen, daß es über ein vollendetes Kunstwerk hinaus keinen Fortschritt
geben, daß man vielmehr nur neben dasselbe andere, neue und in ihrer Art
wieder vollendete Kunstwerke stellen kann, und daß das Neue und eigenartig
Wertvolle weit weniger auf der Anwendung neuer Formen und Mittel als auf
der Beschaffenheit der musikalischen Gedanken selbst beruht.

Ein würdiges Seitenstück zu Merians Musikgeschichte bildet auf dem
Spezialgebiet der Oper ein Buch von Klob (Karl Maria Klob, Die Oper von
Gluck bis Wagner; Ulm, H. Kerker. 1913), der uns freilich versichert, er habe
alle besprochenen Werke in der Partitur oder in, Klavierauszug vor Augen gehabt
und selbständig beurteilt. Nichtsdestoweniger läßt sich ihm, selbst abgesehen von
der auch hier völlig wertlosen Einleitung, welche die Oper vor Gluck bespricht,
leicht nachweisen, daß er nach schlechten Schablonen gearbeitet hat. Wie könnte
er sonst beispielsweise behaupten, Beethoven schließe sich mit „Fidelio" an Mozart
an, während doch längst bekannt ist, daß „Fidclio", wie er textlich zur Gattung
der französischen Dialogoper gehört, so auch musikalisch nichts Mozartisches,
wohl aber vieles von Cherubini enthält! Man darf ruhig sagen, daß er auch
ohne die Existenz der Mozartschen Opern so geworden wäre wie er ist. Webers
„Oberon" behandelt Klob in Übereinstimmung mit manchen fanatischen
Wagnerianern verächtlich, weil er in der Verwendung des gesprochenen Wortes
einen Rückschritt gegen die durchkomponierte „Euryanthe" erblickt. Also auch
hier werden Äußerlichkeiten zu künstlerischen Wertmaßstäben erhoben.

Unvergleichlich höher als die eben besprochenen Bücher steht die in der
Sammlung Göschen erschienene Musikgeschichte des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts von Grunsky. Ihr ursprünglicher Umfang von nur einem Bändchen
ist jetzt auf drei erweitert worden, von denen mir die beiden ersten vorliegen (or.Karl
Grunsky, Musikgeschichte des siebzehntenJahrhunderts, zweitevöllig


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[0385] Neue Bücher über Musik Zusammenhang gebracht worden; doch ist davon im Buche sehr wenig zu bemerken. Um zu zeigen, daß neben dem Geist der Oberflächlichkeit auch durchaus falsche, aber leider weitverbreitete und darum gefährliche Kunstanschauungen in dieser Musikgeschichte ihr Wesen treiben, will ich nur zwei Einzelheiten an¬ führen. Das von den Ausbeutern schon so oft mißhandelte Scherzo der „Eroica" erführe hier eine neue Interpretation: es soll das boshafte Geklatsch der Menge über den Helden darstellen. Wann wird man endlich aufhören, die Tonkunst auf solche und ähnliche Weise in den Staub zu ziehen? Bei Besprechung von Brahms' Schaffen wird mit Recht die Hinwendung zu Bach und zu den Meistern des sechzehnten Jahrhunderts hervorgehoben; aber daraus wird gefolgert, Brahms stehe nicht in der geraden Linie des Fortschrittes über Beethoven hinaus; diese sei vielmehr durch Berlioz, Liszt und Wagner be¬ zeichnet. Von der Neuheit und Eigenheit, von der Modernität der Brahmsschen Musik haben die Verfasser also keine Ahnung, und außerdem haben sie nicht begriffen, daß es über ein vollendetes Kunstwerk hinaus keinen Fortschritt geben, daß man vielmehr nur neben dasselbe andere, neue und in ihrer Art wieder vollendete Kunstwerke stellen kann, und daß das Neue und eigenartig Wertvolle weit weniger auf der Anwendung neuer Formen und Mittel als auf der Beschaffenheit der musikalischen Gedanken selbst beruht. Ein würdiges Seitenstück zu Merians Musikgeschichte bildet auf dem Spezialgebiet der Oper ein Buch von Klob (Karl Maria Klob, Die Oper von Gluck bis Wagner; Ulm, H. Kerker. 1913), der uns freilich versichert, er habe alle besprochenen Werke in der Partitur oder in, Klavierauszug vor Augen gehabt und selbständig beurteilt. Nichtsdestoweniger läßt sich ihm, selbst abgesehen von der auch hier völlig wertlosen Einleitung, welche die Oper vor Gluck bespricht, leicht nachweisen, daß er nach schlechten Schablonen gearbeitet hat. Wie könnte er sonst beispielsweise behaupten, Beethoven schließe sich mit „Fidelio" an Mozart an, während doch längst bekannt ist, daß „Fidclio", wie er textlich zur Gattung der französischen Dialogoper gehört, so auch musikalisch nichts Mozartisches, wohl aber vieles von Cherubini enthält! Man darf ruhig sagen, daß er auch ohne die Existenz der Mozartschen Opern so geworden wäre wie er ist. Webers „Oberon" behandelt Klob in Übereinstimmung mit manchen fanatischen Wagnerianern verächtlich, weil er in der Verwendung des gesprochenen Wortes einen Rückschritt gegen die durchkomponierte „Euryanthe" erblickt. Also auch hier werden Äußerlichkeiten zu künstlerischen Wertmaßstäben erhoben. Unvergleichlich höher als die eben besprochenen Bücher steht die in der Sammlung Göschen erschienene Musikgeschichte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts von Grunsky. Ihr ursprünglicher Umfang von nur einem Bändchen ist jetzt auf drei erweitert worden, von denen mir die beiden ersten vorliegen (or.Karl Grunsky, Musikgeschichte des siebzehntenJahrhunderts, zweitevöllig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/385>, abgerufen am 22.05.2024.