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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ariegerische Volkspoesie
Dr. Linn Lohn-Bonn von

(DM^^^M^Lo
MMeher das poetische Werk eines Dichters zu urteilen, gehört gewiß
nicht zu den schwierigen Dingen. Man steht vor einem ab¬
geschlossenen Ganzen, das nach Gesetzen gebaut und in seinen
Grenzen überschaubar ist. Die Gesetze der Kunst find da, und
damit ist der Maßstab für die Bewertung des Kunstwerks gegeben.
'Ganz anders verhält es sich mit der Volkspoesie, die aller Gesetze
spottet und uns dennoch zum Herzen redet. Gerade die Etnfältigkeit ihrer Gefühle,
die Ungesetzmäßigkeit ihrer Formen, ihre Sprunghaftigkeit und Unbeholfenheit er¬
zeugt die tiefsten Wirkungen. Und zwar nicht allein beim schlichten Volke, fondern
auch bei den feinsten ästhetischen Köpfen, weil eben in der Unbeholfenheit die rührende
Reinheit der Volksseele, in der Ungesetzmäßigkeit ihre Ursprünglichkeit zutage
tritt. Diesen Wirkungen nachzugehen und sie mit Gründen verständlich zu
machen, ist fast unmöglich. Es gilt da in vollem Umfange das Goethewort:
"Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen I"

Was von der Volkspoesie im allgemeinen gilt, gilt in noch höherem Maße
von der kriegerischen Volkspoesie, deren Schönheiten, soweit es die deutsche
Volkspoesie angeht, dem Leser zu vermitteln, ich mir hier zur Aufgabe gemacht
habe. Handelt es sich doch um die Poesie eines Standes, des Krieger¬
standes. Dieser Stand hat seine Entwicklang gehabt, die Hand in Hand ging
mit der Entwicklung der Kriege selbst. Es versteht sich von selbst, daß diese
Entwicklung sich auch in der Kricgspoefie widerspiegelt. Jeder Krieg hat sein
Lied, kann man sagen. Während zum Beispiel das volkstümliche Liebeslied
unmittelbar aus dem Volke heraus verständlich und an keine Zeit gebunden ist.
da es das ewig sich wiederholende Spiel der Geschlechter besingt, ist das
kriegerische Volkslied trotz seiner ewig wiederkehrenden Motive vom Kämpfen
und Fallen auf grüner Haid' doch an seine Zeit gebunden. Daraus folgt,
daß eine Betrachtung über kriegerische Volkspoesie nur eine historische Betrachtung
sein kann. Wir wollen, was den Soldaten bewegt und zum Liede begeistert,
aus seiner Zeit zu begreifen suchen und im kriegerischen Sänge das Spiegelbild
der Geschichte sehen.-




Von einer kriegerischen Volkspoesie des alten Germanentums wissen wir
nur wenig. Aber selbst wenn uns nichts überliefert wäre, müßten wir doch
annehmen, daß es eine solche gegeben hat, aus dem einfachen Grunde, weil
damals die Waffeiipflicht aller Waffenfähigen bestand. Es gab also mehr als
bloß einen Kriegerstand, Volk und Heer waren eins. Wenn der Heerbann
aufgeboten wurde und der Freie den verrosteten Schild von der Wand nahm
und den Speer auf der Schulter von feiner Eigenhufe auszog, um mit seinen




Ariegerische Volkspoesie
Dr. Linn Lohn-Bonn von

(DM^^^M^Lo
MMeher das poetische Werk eines Dichters zu urteilen, gehört gewiß
nicht zu den schwierigen Dingen. Man steht vor einem ab¬
geschlossenen Ganzen, das nach Gesetzen gebaut und in seinen
Grenzen überschaubar ist. Die Gesetze der Kunst find da, und
damit ist der Maßstab für die Bewertung des Kunstwerks gegeben.
'Ganz anders verhält es sich mit der Volkspoesie, die aller Gesetze
spottet und uns dennoch zum Herzen redet. Gerade die Etnfältigkeit ihrer Gefühle,
die Ungesetzmäßigkeit ihrer Formen, ihre Sprunghaftigkeit und Unbeholfenheit er¬
zeugt die tiefsten Wirkungen. Und zwar nicht allein beim schlichten Volke, fondern
auch bei den feinsten ästhetischen Köpfen, weil eben in der Unbeholfenheit die rührende
Reinheit der Volksseele, in der Ungesetzmäßigkeit ihre Ursprünglichkeit zutage
tritt. Diesen Wirkungen nachzugehen und sie mit Gründen verständlich zu
machen, ist fast unmöglich. Es gilt da in vollem Umfange das Goethewort:
„Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen I"

Was von der Volkspoesie im allgemeinen gilt, gilt in noch höherem Maße
von der kriegerischen Volkspoesie, deren Schönheiten, soweit es die deutsche
Volkspoesie angeht, dem Leser zu vermitteln, ich mir hier zur Aufgabe gemacht
habe. Handelt es sich doch um die Poesie eines Standes, des Krieger¬
standes. Dieser Stand hat seine Entwicklang gehabt, die Hand in Hand ging
mit der Entwicklung der Kriege selbst. Es versteht sich von selbst, daß diese
Entwicklung sich auch in der Kricgspoefie widerspiegelt. Jeder Krieg hat sein
Lied, kann man sagen. Während zum Beispiel das volkstümliche Liebeslied
unmittelbar aus dem Volke heraus verständlich und an keine Zeit gebunden ist.
da es das ewig sich wiederholende Spiel der Geschlechter besingt, ist das
kriegerische Volkslied trotz seiner ewig wiederkehrenden Motive vom Kämpfen
und Fallen auf grüner Haid' doch an seine Zeit gebunden. Daraus folgt,
daß eine Betrachtung über kriegerische Volkspoesie nur eine historische Betrachtung
sein kann. Wir wollen, was den Soldaten bewegt und zum Liede begeistert,
aus seiner Zeit zu begreifen suchen und im kriegerischen Sänge das Spiegelbild
der Geschichte sehen.-




Von einer kriegerischen Volkspoesie des alten Germanentums wissen wir
nur wenig. Aber selbst wenn uns nichts überliefert wäre, müßten wir doch
annehmen, daß es eine solche gegeben hat, aus dem einfachen Grunde, weil
damals die Waffeiipflicht aller Waffenfähigen bestand. Es gab also mehr als
bloß einen Kriegerstand, Volk und Heer waren eins. Wenn der Heerbann
aufgeboten wurde und der Freie den verrosteten Schild von der Wand nahm
und den Speer auf der Schulter von feiner Eigenhufe auszog, um mit seinen


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[0163] [Abbildung] Ariegerische Volkspoesie Dr. Linn Lohn-Bonn von (DM^^^M^Lo MMeher das poetische Werk eines Dichters zu urteilen, gehört gewiß nicht zu den schwierigen Dingen. Man steht vor einem ab¬ geschlossenen Ganzen, das nach Gesetzen gebaut und in seinen Grenzen überschaubar ist. Die Gesetze der Kunst find da, und damit ist der Maßstab für die Bewertung des Kunstwerks gegeben. 'Ganz anders verhält es sich mit der Volkspoesie, die aller Gesetze spottet und uns dennoch zum Herzen redet. Gerade die Etnfältigkeit ihrer Gefühle, die Ungesetzmäßigkeit ihrer Formen, ihre Sprunghaftigkeit und Unbeholfenheit er¬ zeugt die tiefsten Wirkungen. Und zwar nicht allein beim schlichten Volke, fondern auch bei den feinsten ästhetischen Köpfen, weil eben in der Unbeholfenheit die rührende Reinheit der Volksseele, in der Ungesetzmäßigkeit ihre Ursprünglichkeit zutage tritt. Diesen Wirkungen nachzugehen und sie mit Gründen verständlich zu machen, ist fast unmöglich. Es gilt da in vollem Umfange das Goethewort: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen I" Was von der Volkspoesie im allgemeinen gilt, gilt in noch höherem Maße von der kriegerischen Volkspoesie, deren Schönheiten, soweit es die deutsche Volkspoesie angeht, dem Leser zu vermitteln, ich mir hier zur Aufgabe gemacht habe. Handelt es sich doch um die Poesie eines Standes, des Krieger¬ standes. Dieser Stand hat seine Entwicklang gehabt, die Hand in Hand ging mit der Entwicklung der Kriege selbst. Es versteht sich von selbst, daß diese Entwicklung sich auch in der Kricgspoefie widerspiegelt. Jeder Krieg hat sein Lied, kann man sagen. Während zum Beispiel das volkstümliche Liebeslied unmittelbar aus dem Volke heraus verständlich und an keine Zeit gebunden ist. da es das ewig sich wiederholende Spiel der Geschlechter besingt, ist das kriegerische Volkslied trotz seiner ewig wiederkehrenden Motive vom Kämpfen und Fallen auf grüner Haid' doch an seine Zeit gebunden. Daraus folgt, daß eine Betrachtung über kriegerische Volkspoesie nur eine historische Betrachtung sein kann. Wir wollen, was den Soldaten bewegt und zum Liede begeistert, aus seiner Zeit zu begreifen suchen und im kriegerischen Sänge das Spiegelbild der Geschichte sehen.- Von einer kriegerischen Volkspoesie des alten Germanentums wissen wir nur wenig. Aber selbst wenn uns nichts überliefert wäre, müßten wir doch annehmen, daß es eine solche gegeben hat, aus dem einfachen Grunde, weil damals die Waffeiipflicht aller Waffenfähigen bestand. Es gab also mehr als bloß einen Kriegerstand, Volk und Heer waren eins. Wenn der Heerbann aufgeboten wurde und der Freie den verrosteten Schild von der Wand nahm und den Speer auf der Schulter von feiner Eigenhufe auszog, um mit seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/163>, abgerufen am 29.04.2024.