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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der Feind im Osten
Dr, Lari Ientsch von

r. Dragutin Prohaska hat uns in seinem Essay "Das slawische
Kulturproblem"*) wertvolle Einblicke in die Gedanken- und Gefühls¬
welt der Slawen, besonders der Südslawen, erschlossen, aber seine
Charakteristik des französischen, des deutschen und des russischen'Volkstums im abschließenden Teil "Die Lösung des Problems" bedarf
der Korrektur. Fanatismus des Rechts soll das Mark der romanischen, insbesondere
der französischen Kultur, und dieses Recht nicht Ausfluß eines Regentenmillens,
sondern Ergebnis eines Sozialvertrags sein. Während so der romanische Staat
ein Rechtsinstitut sei, soll der germanische eine aufgenötigte Ordnung sein, die
sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz des Herrschers und auf
das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen gründe. (Soll wohl heißen,
auf die Treue und das Pflichtgefühl der Untertanen gegründet sei und die
Sicherheit des Herrschers -- oder die Beschützung der Untertanen durch den
Herrscher? -- zum Zweck habe.) Daß Rechtsfanatismus eine hervorstechende
Eigenschaft des französischen Nationalcharakters sei, hat bisher, soviel ich weiß,
sonst noch niemand bemerkt; nicht die eigensinnige Frau, die auf dem Boulevard¬
pflaster ihre Bohnen essend, der Polizei nicht weicht, liefert das klassische
Musterbild des Nechtsfancitikers. sondern unser Michael Kohlhaas. Der Sozial¬
kontrakt steht bloß in Rousseaus Buch; alle wesentlichen Einrichtungen des
französischen Staates sind Schöpfungen teils seiner alten Könige, teils des ersten
Napoleon. Der Schlüssel zum Verständnis des Unterschieds zwischen französischem
und deutschem Wesen steckt in der von den griechischen Philosophen auf¬
geworfenen Frage, ob die sozialen Gebilde -- wie die sittlichen Normen --
-i>üoe>. oder Size,,, natürlich oder durch Satzung, entstanden seien. Die Antwort
lautet: alle soziale Ordnung wächst aus natürlichen Notwendigkeiten heraus,
aber was wächst, das sucht der bald von vernünftiger Einsicht geleitete, bald
von Unverstand und Leidenschaft getriebene individuelle Wille nach seinen
Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Die Franzosen nun sind mit scharfer
Logik begabte Despotennaturen und schwören darum auf die Thesis. Aus will-



*) Heft 37, 33, 42, 44 und 47 der Grenzboten 1914.


Der Feind im Osten
Dr, Lari Ientsch von

r. Dragutin Prohaska hat uns in seinem Essay „Das slawische
Kulturproblem"*) wertvolle Einblicke in die Gedanken- und Gefühls¬
welt der Slawen, besonders der Südslawen, erschlossen, aber seine
Charakteristik des französischen, des deutschen und des russischen'Volkstums im abschließenden Teil „Die Lösung des Problems" bedarf
der Korrektur. Fanatismus des Rechts soll das Mark der romanischen, insbesondere
der französischen Kultur, und dieses Recht nicht Ausfluß eines Regentenmillens,
sondern Ergebnis eines Sozialvertrags sein. Während so der romanische Staat
ein Rechtsinstitut sei, soll der germanische eine aufgenötigte Ordnung sein, die
sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz des Herrschers und auf
das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen gründe. (Soll wohl heißen,
auf die Treue und das Pflichtgefühl der Untertanen gegründet sei und die
Sicherheit des Herrschers — oder die Beschützung der Untertanen durch den
Herrscher? — zum Zweck habe.) Daß Rechtsfanatismus eine hervorstechende
Eigenschaft des französischen Nationalcharakters sei, hat bisher, soviel ich weiß,
sonst noch niemand bemerkt; nicht die eigensinnige Frau, die auf dem Boulevard¬
pflaster ihre Bohnen essend, der Polizei nicht weicht, liefert das klassische
Musterbild des Nechtsfancitikers. sondern unser Michael Kohlhaas. Der Sozial¬
kontrakt steht bloß in Rousseaus Buch; alle wesentlichen Einrichtungen des
französischen Staates sind Schöpfungen teils seiner alten Könige, teils des ersten
Napoleon. Der Schlüssel zum Verständnis des Unterschieds zwischen französischem
und deutschem Wesen steckt in der von den griechischen Philosophen auf¬
geworfenen Frage, ob die sozialen Gebilde — wie die sittlichen Normen —
-i>üoe>. oder Size,,, natürlich oder durch Satzung, entstanden seien. Die Antwort
lautet: alle soziale Ordnung wächst aus natürlichen Notwendigkeiten heraus,
aber was wächst, das sucht der bald von vernünftiger Einsicht geleitete, bald
von Unverstand und Leidenschaft getriebene individuelle Wille nach seinen
Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Die Franzosen nun sind mit scharfer
Logik begabte Despotennaturen und schwören darum auf die Thesis. Aus will-



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[0021] [Abbildung] Der Feind im Osten Dr, Lari Ientsch von r. Dragutin Prohaska hat uns in seinem Essay „Das slawische Kulturproblem"*) wertvolle Einblicke in die Gedanken- und Gefühls¬ welt der Slawen, besonders der Südslawen, erschlossen, aber seine Charakteristik des französischen, des deutschen und des russischen'Volkstums im abschließenden Teil „Die Lösung des Problems" bedarf der Korrektur. Fanatismus des Rechts soll das Mark der romanischen, insbesondere der französischen Kultur, und dieses Recht nicht Ausfluß eines Regentenmillens, sondern Ergebnis eines Sozialvertrags sein. Während so der romanische Staat ein Rechtsinstitut sei, soll der germanische eine aufgenötigte Ordnung sein, die sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz des Herrschers und auf das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen gründe. (Soll wohl heißen, auf die Treue und das Pflichtgefühl der Untertanen gegründet sei und die Sicherheit des Herrschers — oder die Beschützung der Untertanen durch den Herrscher? — zum Zweck habe.) Daß Rechtsfanatismus eine hervorstechende Eigenschaft des französischen Nationalcharakters sei, hat bisher, soviel ich weiß, sonst noch niemand bemerkt; nicht die eigensinnige Frau, die auf dem Boulevard¬ pflaster ihre Bohnen essend, der Polizei nicht weicht, liefert das klassische Musterbild des Nechtsfancitikers. sondern unser Michael Kohlhaas. Der Sozial¬ kontrakt steht bloß in Rousseaus Buch; alle wesentlichen Einrichtungen des französischen Staates sind Schöpfungen teils seiner alten Könige, teils des ersten Napoleon. Der Schlüssel zum Verständnis des Unterschieds zwischen französischem und deutschem Wesen steckt in der von den griechischen Philosophen auf¬ geworfenen Frage, ob die sozialen Gebilde — wie die sittlichen Normen — -i>üoe>. oder Size,,, natürlich oder durch Satzung, entstanden seien. Die Antwort lautet: alle soziale Ordnung wächst aus natürlichen Notwendigkeiten heraus, aber was wächst, das sucht der bald von vernünftiger Einsicht geleitete, bald von Unverstand und Leidenschaft getriebene individuelle Wille nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Die Franzosen nun sind mit scharfer Logik begabte Despotennaturen und schwören darum auf die Thesis. Aus will- *) Heft 37, 33, 42, 44 und 47 der Grenzboten 1914.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/21>, abgerufen am 29.04.2024.