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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ver russisch-schwedische Bahnanschluß und der
Narvik-Konflikt
I)r. Richard cnnig von

it bemerkenswerter Häufigkeit ist in den letzten Wochen ein Thema
erörtert worden, das schon im Frieden seit Jahren hier und da
behandelt wurde und das nun mit einem Male inmitten des
Weltkrieges einen unerwartet hohen Gegenwartswert erlangt hat:
die Frage des russisch - schwedischen Eisenbahnanschlusses. In
Deutschland sind weite Kreise geneigt, die Bedeutung dieses Problems auch für
unsere eigene Beteiligung am Weltkrieg sehr beträchtlich zu unterschätzen; das
Interesse dafür ist auffällig gering -- ein deutliches Zeichen, daß nicht eben
viele Gebildete vollkommen übersehen, um was es sich dabei handelt. Der
außerordentlich rege Eifer, mit dem Nußland jetzt inmitten seiner Kriegsnöte
und ungeachtet seiner bedenklichen finanziellen Lage das rasche Zustandekommen
des russisch-finnischen Eisenbahnauschlusses zu fördern bestrebt ist, läßt ohne
weiteres den Schluß zu, daß es sich hier um eine Lebensfrage für Nu߬
land handelt, bei der vielleicht Sein und Nichtsein der heutigen Negierung auf
dem Spiel steht. Um diese Tatsache besser zu würdigen, erinnere man sich an
folgende Umstände.

Rußland verfügt ja als größter Landstaat der Erde über eine Gesamt-
tustenlinie wie kein anderer Staat. Aber dieser Kttstenbesitz ist von geringen,
Wert, da der größte Teil der Küste fast ständig von Eis blockiert oder an
Meeren gelegen ist, deren enge Ausgänge zum Ozean von anderen Mächten
kontrolliert werden. Die Zufahrtstraßen zu den russischen Ostseehäfen werden von
Deutschland, Dänemark und Schweden, die zu den Schwarzmeerhäfen von der
Türkei, die zu den ostasiatischen Häfen von Japan beherrscht. Dazu ist kein
einziger von allen russischen Seehäfen eisfrei; die einzigen eisfreien Häfen, die
Nußland je besaß, Port Arthur und Dalni, waren nur sechs Jahre in seinem
Besitz und sind ihm von Japan wieder entrissen worden. Die Sehnsucht nach
dem Seehafen am warmen Meer bildet den Grundstein der russischen Expansions¬
politik seit vielen Jahrzehnten. Nachdem im fernen Osten die Hoffnung auf den




Ver russisch-schwedische Bahnanschluß und der
Narvik-Konflikt
I)r. Richard cnnig von

it bemerkenswerter Häufigkeit ist in den letzten Wochen ein Thema
erörtert worden, das schon im Frieden seit Jahren hier und da
behandelt wurde und das nun mit einem Male inmitten des
Weltkrieges einen unerwartet hohen Gegenwartswert erlangt hat:
die Frage des russisch - schwedischen Eisenbahnanschlusses. In
Deutschland sind weite Kreise geneigt, die Bedeutung dieses Problems auch für
unsere eigene Beteiligung am Weltkrieg sehr beträchtlich zu unterschätzen; das
Interesse dafür ist auffällig gering — ein deutliches Zeichen, daß nicht eben
viele Gebildete vollkommen übersehen, um was es sich dabei handelt. Der
außerordentlich rege Eifer, mit dem Nußland jetzt inmitten seiner Kriegsnöte
und ungeachtet seiner bedenklichen finanziellen Lage das rasche Zustandekommen
des russisch-finnischen Eisenbahnauschlusses zu fördern bestrebt ist, läßt ohne
weiteres den Schluß zu, daß es sich hier um eine Lebensfrage für Nu߬
land handelt, bei der vielleicht Sein und Nichtsein der heutigen Negierung auf
dem Spiel steht. Um diese Tatsache besser zu würdigen, erinnere man sich an
folgende Umstände.

Rußland verfügt ja als größter Landstaat der Erde über eine Gesamt-
tustenlinie wie kein anderer Staat. Aber dieser Kttstenbesitz ist von geringen,
Wert, da der größte Teil der Küste fast ständig von Eis blockiert oder an
Meeren gelegen ist, deren enge Ausgänge zum Ozean von anderen Mächten
kontrolliert werden. Die Zufahrtstraßen zu den russischen Ostseehäfen werden von
Deutschland, Dänemark und Schweden, die zu den Schwarzmeerhäfen von der
Türkei, die zu den ostasiatischen Häfen von Japan beherrscht. Dazu ist kein
einziger von allen russischen Seehäfen eisfrei; die einzigen eisfreien Häfen, die
Nußland je besaß, Port Arthur und Dalni, waren nur sechs Jahre in seinem
Besitz und sind ihm von Japan wieder entrissen worden. Die Sehnsucht nach
dem Seehafen am warmen Meer bildet den Grundstein der russischen Expansions¬
politik seit vielen Jahrzehnten. Nachdem im fernen Osten die Hoffnung auf den


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[0086] [Abbildung] Ver russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Konflikt I)r. Richard cnnig von it bemerkenswerter Häufigkeit ist in den letzten Wochen ein Thema erörtert worden, das schon im Frieden seit Jahren hier und da behandelt wurde und das nun mit einem Male inmitten des Weltkrieges einen unerwartet hohen Gegenwartswert erlangt hat: die Frage des russisch - schwedischen Eisenbahnanschlusses. In Deutschland sind weite Kreise geneigt, die Bedeutung dieses Problems auch für unsere eigene Beteiligung am Weltkrieg sehr beträchtlich zu unterschätzen; das Interesse dafür ist auffällig gering — ein deutliches Zeichen, daß nicht eben viele Gebildete vollkommen übersehen, um was es sich dabei handelt. Der außerordentlich rege Eifer, mit dem Nußland jetzt inmitten seiner Kriegsnöte und ungeachtet seiner bedenklichen finanziellen Lage das rasche Zustandekommen des russisch-finnischen Eisenbahnauschlusses zu fördern bestrebt ist, läßt ohne weiteres den Schluß zu, daß es sich hier um eine Lebensfrage für Nu߬ land handelt, bei der vielleicht Sein und Nichtsein der heutigen Negierung auf dem Spiel steht. Um diese Tatsache besser zu würdigen, erinnere man sich an folgende Umstände. Rußland verfügt ja als größter Landstaat der Erde über eine Gesamt- tustenlinie wie kein anderer Staat. Aber dieser Kttstenbesitz ist von geringen, Wert, da der größte Teil der Küste fast ständig von Eis blockiert oder an Meeren gelegen ist, deren enge Ausgänge zum Ozean von anderen Mächten kontrolliert werden. Die Zufahrtstraßen zu den russischen Ostseehäfen werden von Deutschland, Dänemark und Schweden, die zu den Schwarzmeerhäfen von der Türkei, die zu den ostasiatischen Häfen von Japan beherrscht. Dazu ist kein einziger von allen russischen Seehäfen eisfrei; die einzigen eisfreien Häfen, die Nußland je besaß, Port Arthur und Dalni, waren nur sechs Jahre in seinem Besitz und sind ihm von Japan wieder entrissen worden. Die Sehnsucht nach dem Seehafen am warmen Meer bildet den Grundstein der russischen Expansions¬ politik seit vielen Jahrzehnten. Nachdem im fernen Osten die Hoffnung auf den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/86>, abgerufen am 28.04.2024.