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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Aonflikt

dauernd eisfreien Hafen durch die Ereignisse der Jahre 1904 und 1905 für
unabsehbare Zeit zum Scheitern gebracht war und jedes aggressive Vorgehen
in Südasien, das die Besitzergreifung eines Hafens am Persischen Golf oder
auch an der kleinasiatischen Mittelmeerküste zum Ziele hatte, unweigerlich den
seit Jahrzehnten drohenden, welthistorischen Zusammenstoß mit England herauf¬
beschworen hätte, suchte die russische Politik den auf die Dauer unentbehrlichen
warmen Hafen wieder auf europäischem Boden zu gewinnen, sei es am Bosporus,
sei es am Mittelmeer oder Norwegischen Meer. Der Krieg gegen Österreich-
Ungarn, der auch den Krieg mit Deutschland nach sich zog, sollte ja nach dem
Wunsche der russischen Imperialisten nur die unvermeidliche Vorstufe sein zur
Errichtung der russischen Herrschaft im Bereich des Mittelmeerbeckens, gemäß
dem seit zehn Jahren gepredigten russischen Dogma, daß der Weg nach
Konstantinopel über Wien und Berlin führen müsse. Gegenwärtig, da Nu߬
land den schwersten Krieg durchmacht, den es seit mehr als zweihundert Jahren
zu führen hat, steht ihm ein Hafen am warmen Meer noch nicht zur Verfügung,
und dieser Umstand bringt die Gefahr einer Katastrophe in Sichtweite, da
Rußland seit dem Winterbeginn von jeder Ein- und Ausfuhr größeren Stils
ungleich fühlbarer als Deutschland oder Österreich abgeschnitten ist.

Der Krieg gegen Deutschland hat Rußland die Ostsee verschlossen, der gleich¬
zeitige Konflikt und Krieg mit der Türkei auch die Dardanellen. Nur auf dem Wege
über Schweden und über Bulgarien (Dedeagatsch) konnten Rußlands Häfen noch
im bescheidensten Umfang eine Aus- und Einfuhr von und nach der Nordsee und
dem Mittelmeer aufrecht erhalten, und diese beide neutralen Staaten, auf deren
guten Willen das russische Wirtschaftsleben angewiesen war, verhielten sich nichts
weniger als russenfreundlich und wachten strengstens darüber, daß keine Transporte
nach Rußland kamen, deren Beförderung mit der Neutralität nicht im Einklang
zu bringen war, insbesondere also keine Zufuhr von Munition und Geschützen,
auf die Rußlands Kriegführung unbedingt angewiesen war. Die Frage war
noch wenig brennend, solange der Hafen von Archangelsk offen war. der dem
europäischen Rußland eine Seeoerbinduug mit dem nichtfeindlichen Auslande
gewährte, wenn auch nur auf einem sehr großen, umständlichen und (infolge
der anschließenden langen Eisenbahnfahrt) äußerst kostspieligen Umweg über das
Eismeer und Weiße Meer. Der Hafen von Archangelsk begann aber Ende
November zuzufrieren, und wenn auch ein aus Kanada verschriebener, großer
Eisbrecher die Schisfahrsperiode von Archangelsk noch um etwa zwei Wochen
zu verlängern gestattete, so war dieser Notbehelf doch nur von geringem Wert,
da der enge Hals des nördlichen Weißen Meeres, der den einzigen Zugang
nach Archangelsk bildet, doch in jedem Fall schon frühzeitig derartig mit Pack¬
eismassen angefüllt wird, daß kein Eisbrecher zu helfen vermag. Obwohl der
Winter bisher ziemlich milde ist, ist der Hafen von Archangelsk jetzt voraus¬
sichtlich bis zum Mai und der letzte vom Feind unabgesperrte russische Haupthafen.
Wladiwostok, etwa bis zum März oder April für jeden Verkehr völlig unbenützbar.


Der russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Aonflikt

dauernd eisfreien Hafen durch die Ereignisse der Jahre 1904 und 1905 für
unabsehbare Zeit zum Scheitern gebracht war und jedes aggressive Vorgehen
in Südasien, das die Besitzergreifung eines Hafens am Persischen Golf oder
auch an der kleinasiatischen Mittelmeerküste zum Ziele hatte, unweigerlich den
seit Jahrzehnten drohenden, welthistorischen Zusammenstoß mit England herauf¬
beschworen hätte, suchte die russische Politik den auf die Dauer unentbehrlichen
warmen Hafen wieder auf europäischem Boden zu gewinnen, sei es am Bosporus,
sei es am Mittelmeer oder Norwegischen Meer. Der Krieg gegen Österreich-
Ungarn, der auch den Krieg mit Deutschland nach sich zog, sollte ja nach dem
Wunsche der russischen Imperialisten nur die unvermeidliche Vorstufe sein zur
Errichtung der russischen Herrschaft im Bereich des Mittelmeerbeckens, gemäß
dem seit zehn Jahren gepredigten russischen Dogma, daß der Weg nach
Konstantinopel über Wien und Berlin führen müsse. Gegenwärtig, da Nu߬
land den schwersten Krieg durchmacht, den es seit mehr als zweihundert Jahren
zu führen hat, steht ihm ein Hafen am warmen Meer noch nicht zur Verfügung,
und dieser Umstand bringt die Gefahr einer Katastrophe in Sichtweite, da
Rußland seit dem Winterbeginn von jeder Ein- und Ausfuhr größeren Stils
ungleich fühlbarer als Deutschland oder Österreich abgeschnitten ist.

Der Krieg gegen Deutschland hat Rußland die Ostsee verschlossen, der gleich¬
zeitige Konflikt und Krieg mit der Türkei auch die Dardanellen. Nur auf dem Wege
über Schweden und über Bulgarien (Dedeagatsch) konnten Rußlands Häfen noch
im bescheidensten Umfang eine Aus- und Einfuhr von und nach der Nordsee und
dem Mittelmeer aufrecht erhalten, und diese beide neutralen Staaten, auf deren
guten Willen das russische Wirtschaftsleben angewiesen war, verhielten sich nichts
weniger als russenfreundlich und wachten strengstens darüber, daß keine Transporte
nach Rußland kamen, deren Beförderung mit der Neutralität nicht im Einklang
zu bringen war, insbesondere also keine Zufuhr von Munition und Geschützen,
auf die Rußlands Kriegführung unbedingt angewiesen war. Die Frage war
noch wenig brennend, solange der Hafen von Archangelsk offen war. der dem
europäischen Rußland eine Seeoerbinduug mit dem nichtfeindlichen Auslande
gewährte, wenn auch nur auf einem sehr großen, umständlichen und (infolge
der anschließenden langen Eisenbahnfahrt) äußerst kostspieligen Umweg über das
Eismeer und Weiße Meer. Der Hafen von Archangelsk begann aber Ende
November zuzufrieren, und wenn auch ein aus Kanada verschriebener, großer
Eisbrecher die Schisfahrsperiode von Archangelsk noch um etwa zwei Wochen
zu verlängern gestattete, so war dieser Notbehelf doch nur von geringem Wert,
da der enge Hals des nördlichen Weißen Meeres, der den einzigen Zugang
nach Archangelsk bildet, doch in jedem Fall schon frühzeitig derartig mit Pack¬
eismassen angefüllt wird, daß kein Eisbrecher zu helfen vermag. Obwohl der
Winter bisher ziemlich milde ist, ist der Hafen von Archangelsk jetzt voraus¬
sichtlich bis zum Mai und der letzte vom Feind unabgesperrte russische Haupthafen.
Wladiwostok, etwa bis zum März oder April für jeden Verkehr völlig unbenützbar.


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[0087] Der russisch-schwedische Bahnanschluß und der Narvik-Aonflikt dauernd eisfreien Hafen durch die Ereignisse der Jahre 1904 und 1905 für unabsehbare Zeit zum Scheitern gebracht war und jedes aggressive Vorgehen in Südasien, das die Besitzergreifung eines Hafens am Persischen Golf oder auch an der kleinasiatischen Mittelmeerküste zum Ziele hatte, unweigerlich den seit Jahrzehnten drohenden, welthistorischen Zusammenstoß mit England herauf¬ beschworen hätte, suchte die russische Politik den auf die Dauer unentbehrlichen warmen Hafen wieder auf europäischem Boden zu gewinnen, sei es am Bosporus, sei es am Mittelmeer oder Norwegischen Meer. Der Krieg gegen Österreich- Ungarn, der auch den Krieg mit Deutschland nach sich zog, sollte ja nach dem Wunsche der russischen Imperialisten nur die unvermeidliche Vorstufe sein zur Errichtung der russischen Herrschaft im Bereich des Mittelmeerbeckens, gemäß dem seit zehn Jahren gepredigten russischen Dogma, daß der Weg nach Konstantinopel über Wien und Berlin führen müsse. Gegenwärtig, da Nu߬ land den schwersten Krieg durchmacht, den es seit mehr als zweihundert Jahren zu führen hat, steht ihm ein Hafen am warmen Meer noch nicht zur Verfügung, und dieser Umstand bringt die Gefahr einer Katastrophe in Sichtweite, da Rußland seit dem Winterbeginn von jeder Ein- und Ausfuhr größeren Stils ungleich fühlbarer als Deutschland oder Österreich abgeschnitten ist. Der Krieg gegen Deutschland hat Rußland die Ostsee verschlossen, der gleich¬ zeitige Konflikt und Krieg mit der Türkei auch die Dardanellen. Nur auf dem Wege über Schweden und über Bulgarien (Dedeagatsch) konnten Rußlands Häfen noch im bescheidensten Umfang eine Aus- und Einfuhr von und nach der Nordsee und dem Mittelmeer aufrecht erhalten, und diese beide neutralen Staaten, auf deren guten Willen das russische Wirtschaftsleben angewiesen war, verhielten sich nichts weniger als russenfreundlich und wachten strengstens darüber, daß keine Transporte nach Rußland kamen, deren Beförderung mit der Neutralität nicht im Einklang zu bringen war, insbesondere also keine Zufuhr von Munition und Geschützen, auf die Rußlands Kriegführung unbedingt angewiesen war. Die Frage war noch wenig brennend, solange der Hafen von Archangelsk offen war. der dem europäischen Rußland eine Seeoerbinduug mit dem nichtfeindlichen Auslande gewährte, wenn auch nur auf einem sehr großen, umständlichen und (infolge der anschließenden langen Eisenbahnfahrt) äußerst kostspieligen Umweg über das Eismeer und Weiße Meer. Der Hafen von Archangelsk begann aber Ende November zuzufrieren, und wenn auch ein aus Kanada verschriebener, großer Eisbrecher die Schisfahrsperiode von Archangelsk noch um etwa zwei Wochen zu verlängern gestattete, so war dieser Notbehelf doch nur von geringem Wert, da der enge Hals des nördlichen Weißen Meeres, der den einzigen Zugang nach Archangelsk bildet, doch in jedem Fall schon frühzeitig derartig mit Pack¬ eismassen angefüllt wird, daß kein Eisbrecher zu helfen vermag. Obwohl der Winter bisher ziemlich milde ist, ist der Hafen von Archangelsk jetzt voraus¬ sichtlich bis zum Mai und der letzte vom Feind unabgesperrte russische Haupthafen. Wladiwostok, etwa bis zum März oder April für jeden Verkehr völlig unbenützbar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/87>, abgerufen am 14.05.2024.