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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Es steht mein Baum wohl unter andern Bäumen,
Doch dieser Baum ist mir der liebste, beste.
Er steht gewaltig, reckt die hundert Äste
Und läßt im Wind die tausend Blätter schäumen.
Die Freiheit weht in seinen grünen Räumen
Und Wohnung ist für viele, bunte Gäste.
Hier bau ich fröhlich an dem eignen Neste,
Hier kann ich singen und hier darf ich träumen.
Und hat der Sturm dich wütend angefallen,
Und schreit dich an und schlägt mein Nest zuschanden,
Ich zittre nicht, ich will darum nicht trauern:
Stehst du nur fest, mein liebster Baum vor allen,
Und wie du schon Jahrhunderte gestanden.
So sollst du neue Ewigkeiten dauern.
Frankreichs innere Lage
Professor Dr. Max I. Wolfs von

"cum man nach den Äußerungen der französischen Presse urteilen
wollte, so müßte ganz Frankreich ein Bild einmütigster Kriegs-
! begeisterung bieten. Die Blätter von der äußersten Rechten bis
zu denen der wildesten Sozialisten überbieten sich in Beschimpfungen
Deutschlands, Beteuerungen ihres opferwilligen Patriotismus,
Bewunderung der heldenmütigen Armee und der nicht minder heldenmütigen
Bundesgenossen, sowie in Erklärungen, daß der Krieg nur mit der völligen
Vernichtung Deutschlands enden dürfe. Dazwischen klingt wohl die Sorge,
daß die Zivilisten bis zu diesem ja noch entlegenen Zeitpunkt nicht durchhalten
könnten, aber sie wird beschwichtigt durch den Hinweis auf den herrlichen Geist
im Heere. Die Niederlagen der Russen bleiben eindruckslos, weil sie in den
Zeitungen nur in Verbindung mit ihrer neuen bevorstehenden Offensive gemeldet
werden, und über das Versagen des für den Frühling angekündigten Joffreschen
Angriffes setzt man sich mit dem Trost hinweg, daß der Feind bald aus
Mangel an Geld oder Rohstoffen wie Baumwolle und Kupfer zusammenbrechen
werde und der Sieg des Verbandes auch ohne Erfolge auf dem Schlachtfeld
gesichert sei. Deutschlands Niederlage liegt zwar noch nicht in greifbarer Ruhe,
ist darum aber nicht weniger gewiß.

Mit dieser Zuversicht stimmen die Kämpfe der letzten Kammerverhandlungen
schlecht überein, die beinahe zum Sturz der Regierung geführt hätten und
den Zwiespalt zwischen der Mehrheit und dem Ministerium der nationalen
Verteidigung offenkundig gemacht haben. Auf den Inhalt der einzelnen
Angriffe kommt wenig an. Es mag im Sanitätswesen und in der Munitions¬
beschaffung vieles versehen sein, aber alle diese Punkte sind nur Vorwände,
hinter denen sich die allgemeine Mißstimmung verbirgt. Sie gilt ebensosehr
der obersten Heeresleitung wie der Militärverwaltung. Da man sich aber
an den noch immer volkstümlichen Generalissimus nicht heranwagt, fällt der
Zorn der Abgeordneten ausschließlich auf Millerand. Er und seine Amts¬
genossen verdanken ihre nochmalige Rettung vielleicht weniger der Redekunst
Vioianis, als der Unlust der Opposition, die wenig beneidenswerte Erbschaft
anzutreten. Viviani, Delcassö, Millerand sind sicher keine großen Staatsmänner,
aber auch die Gegner verfügen über keine starke Persönlichkeit. Die Rückkehr




Es steht mein Baum wohl unter andern Bäumen,
Doch dieser Baum ist mir der liebste, beste.
Er steht gewaltig, reckt die hundert Äste
Und läßt im Wind die tausend Blätter schäumen.
Die Freiheit weht in seinen grünen Räumen
Und Wohnung ist für viele, bunte Gäste.
Hier bau ich fröhlich an dem eignen Neste,
Hier kann ich singen und hier darf ich träumen.
Und hat der Sturm dich wütend angefallen,
Und schreit dich an und schlägt mein Nest zuschanden,
Ich zittre nicht, ich will darum nicht trauern:
Stehst du nur fest, mein liebster Baum vor allen,
Und wie du schon Jahrhunderte gestanden.
So sollst du neue Ewigkeiten dauern.
Frankreichs innere Lage
Professor Dr. Max I. Wolfs von

«cum man nach den Äußerungen der französischen Presse urteilen
wollte, so müßte ganz Frankreich ein Bild einmütigster Kriegs-
! begeisterung bieten. Die Blätter von der äußersten Rechten bis
zu denen der wildesten Sozialisten überbieten sich in Beschimpfungen
Deutschlands, Beteuerungen ihres opferwilligen Patriotismus,
Bewunderung der heldenmütigen Armee und der nicht minder heldenmütigen
Bundesgenossen, sowie in Erklärungen, daß der Krieg nur mit der völligen
Vernichtung Deutschlands enden dürfe. Dazwischen klingt wohl die Sorge,
daß die Zivilisten bis zu diesem ja noch entlegenen Zeitpunkt nicht durchhalten
könnten, aber sie wird beschwichtigt durch den Hinweis auf den herrlichen Geist
im Heere. Die Niederlagen der Russen bleiben eindruckslos, weil sie in den
Zeitungen nur in Verbindung mit ihrer neuen bevorstehenden Offensive gemeldet
werden, und über das Versagen des für den Frühling angekündigten Joffreschen
Angriffes setzt man sich mit dem Trost hinweg, daß der Feind bald aus
Mangel an Geld oder Rohstoffen wie Baumwolle und Kupfer zusammenbrechen
werde und der Sieg des Verbandes auch ohne Erfolge auf dem Schlachtfeld
gesichert sei. Deutschlands Niederlage liegt zwar noch nicht in greifbarer Ruhe,
ist darum aber nicht weniger gewiß.

Mit dieser Zuversicht stimmen die Kämpfe der letzten Kammerverhandlungen
schlecht überein, die beinahe zum Sturz der Regierung geführt hätten und
den Zwiespalt zwischen der Mehrheit und dem Ministerium der nationalen
Verteidigung offenkundig gemacht haben. Auf den Inhalt der einzelnen
Angriffe kommt wenig an. Es mag im Sanitätswesen und in der Munitions¬
beschaffung vieles versehen sein, aber alle diese Punkte sind nur Vorwände,
hinter denen sich die allgemeine Mißstimmung verbirgt. Sie gilt ebensosehr
der obersten Heeresleitung wie der Militärverwaltung. Da man sich aber
an den noch immer volkstümlichen Generalissimus nicht heranwagt, fällt der
Zorn der Abgeordneten ausschließlich auf Millerand. Er und seine Amts¬
genossen verdanken ihre nochmalige Rettung vielleicht weniger der Redekunst
Vioianis, als der Unlust der Opposition, die wenig beneidenswerte Erbschaft
anzutreten. Viviani, Delcassö, Millerand sind sicher keine großen Staatsmänner,
aber auch die Gegner verfügen über keine starke Persönlichkeit. Die Rückkehr


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[0370] [Abbildung] Es steht mein Baum wohl unter andern Bäumen, Doch dieser Baum ist mir der liebste, beste. Er steht gewaltig, reckt die hundert Äste Und läßt im Wind die tausend Blätter schäumen. Die Freiheit weht in seinen grünen Räumen Und Wohnung ist für viele, bunte Gäste. Hier bau ich fröhlich an dem eignen Neste, Hier kann ich singen und hier darf ich träumen. Und hat der Sturm dich wütend angefallen, Und schreit dich an und schlägt mein Nest zuschanden, Ich zittre nicht, ich will darum nicht trauern: Stehst du nur fest, mein liebster Baum vor allen, Und wie du schon Jahrhunderte gestanden. So sollst du neue Ewigkeiten dauern. Frankreichs innere Lage Professor Dr. Max I. Wolfs von «cum man nach den Äußerungen der französischen Presse urteilen wollte, so müßte ganz Frankreich ein Bild einmütigster Kriegs- ! begeisterung bieten. Die Blätter von der äußersten Rechten bis zu denen der wildesten Sozialisten überbieten sich in Beschimpfungen Deutschlands, Beteuerungen ihres opferwilligen Patriotismus, Bewunderung der heldenmütigen Armee und der nicht minder heldenmütigen Bundesgenossen, sowie in Erklärungen, daß der Krieg nur mit der völligen Vernichtung Deutschlands enden dürfe. Dazwischen klingt wohl die Sorge, daß die Zivilisten bis zu diesem ja noch entlegenen Zeitpunkt nicht durchhalten könnten, aber sie wird beschwichtigt durch den Hinweis auf den herrlichen Geist im Heere. Die Niederlagen der Russen bleiben eindruckslos, weil sie in den Zeitungen nur in Verbindung mit ihrer neuen bevorstehenden Offensive gemeldet werden, und über das Versagen des für den Frühling angekündigten Joffreschen Angriffes setzt man sich mit dem Trost hinweg, daß der Feind bald aus Mangel an Geld oder Rohstoffen wie Baumwolle und Kupfer zusammenbrechen werde und der Sieg des Verbandes auch ohne Erfolge auf dem Schlachtfeld gesichert sei. Deutschlands Niederlage liegt zwar noch nicht in greifbarer Ruhe, ist darum aber nicht weniger gewiß. Mit dieser Zuversicht stimmen die Kämpfe der letzten Kammerverhandlungen schlecht überein, die beinahe zum Sturz der Regierung geführt hätten und den Zwiespalt zwischen der Mehrheit und dem Ministerium der nationalen Verteidigung offenkundig gemacht haben. Auf den Inhalt der einzelnen Angriffe kommt wenig an. Es mag im Sanitätswesen und in der Munitions¬ beschaffung vieles versehen sein, aber alle diese Punkte sind nur Vorwände, hinter denen sich die allgemeine Mißstimmung verbirgt. Sie gilt ebensosehr der obersten Heeresleitung wie der Militärverwaltung. Da man sich aber an den noch immer volkstümlichen Generalissimus nicht heranwagt, fällt der Zorn der Abgeordneten ausschließlich auf Millerand. Er und seine Amts¬ genossen verdanken ihre nochmalige Rettung vielleicht weniger der Redekunst Vioianis, als der Unlust der Opposition, die wenig beneidenswerte Erbschaft anzutreten. Viviani, Delcassö, Millerand sind sicher keine großen Staatsmänner, aber auch die Gegner verfügen über keine starke Persönlichkeit. Die Rückkehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/370>, abgerufen am 26.05.2024.