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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs innere Lage

des alten Combes wäre nur den ärgsten Kirchenfeinden willkommen und diese
haben gründlich abgewirtschaftet; der kluge Briand denkt nicht daran, sich heute
abzunutzen, und auch die Stunde des schlauen Caillaux hat noch nicht geschlagen.
Der Kellermann Clemenceau wird nicht ernst genommen, obgleich jeder seine
stilgewandten Ausfälle gegen die Regierung mit Behagen liest.

Man darf aber nicht in den Irrtum verfallen und in den augenblicklichen
inneren Kämpfen nichts als den üblichen Parteihader ministersüchtiger Häuptlinge
sehen. Der Bruch der vielgepriesenen "Union Sacröe" vollzieht sich mit
unbarmherziger Notwendigkeit. Die schroffen Gegensätze, die Frankreich seit
einem Jahrhundert zerreißen und beim Fall Dreyfuß bis an den Rand des
Bürgerkrieges gebracht haben, ließen sich in den Tagen der höchsten Gefahr
überbrücken, mußten aber, sobald sie vorüber war, wieder aufleben. Durch den
Krieg haben die reaktionären Klerikalen Oberwasser bekommen. In ihren Reihen
stehen die schlimmsten nationalistischen Heißsporne, die treuesten Anhänger der
Revancheidee, von der sich die Radikalsten und Sozialisten mehr oder weniger
losgesagt hatten. Daraus macht man den letzteren heute einen Vorwurf,
während ihre Gegner sich als echt französische Leute und Patrioten erster
Klasse aufspielen dürfen. Das Offizierkorps war von jeher streng kirchlich,
teilweise sogar antirepublikanisch gesinnt, besonders in den höheren Stellen,
und der Erfolg an der Marne, der geradezu als ein göttliches Wunder
gepriesen wird, gab diesen Kreisen und der von ihnen vertretenen Anschauung
eine ungemessene Volkstümlichkeit. Dazu kommt, daß die Not auch in
Frankreich beten lehrt und daß viele von den ehemaligen stolzen Freidenkern
unter dem Eindruck der schweren Verluste zur Messe zurückgekehrt sind. Gerade
die anwachsende kirchliche Gesinnung hat die Radikalen auf die Schanzen
gerufen. Die republikanische Staatsform selbst ist im Augenblick nicht bedroht,
aber sie zittern für andere mühsam erkämpfte freiheitliche Errungenschaften,
besonders für die absolute Trennung von Kirche und Staat. Dürften die
Radikalen und Sozialisten heute ihre Meinung offen aussprechen, so würden
sie lieber endgültig auf Elsaß-Lothringen verzichten, ja selbst die eine oder
andere Kolonie dazu geben, wenn sie das Land vor der Herrschaft des
Weihwedels bewahren könnten. Sie haben überhaupt von dem Kriege nichts
Zu erhoffen. Endet er wider Erwarten noch mit einem Erfolg, so wird die
reaktionäre Militärpartei den ganzen Ruhm einstecken; bleibt es bei den Mi߬
erfolgen, so tragen die Parteien die Verantwortung, die vor dem Krieg am
Ruder waren, aber nichts vorbereitet haben. In beiden Fällen triumphiert die
Reaktion, es fragt sich nur, ob sie als siegreicher Kriegsheld einzieht oder als
demütiger Priester den verirrten Schäflein ihr Haus öffnet.

Zwischen den beiden großen Gruppen, der klerikalen und der antiklerikalen,
steht die heutige Regierung ohne festen Halt im Parlament oder im Lande.
Aus Rücksicht auf die Armee wagt sie nicht den von den Radikalen geforderten
Kampf gegen die zunehmende kirchliche Gesinnung aufzunehmen und bricht lieber


Frankreichs innere Lage

des alten Combes wäre nur den ärgsten Kirchenfeinden willkommen und diese
haben gründlich abgewirtschaftet; der kluge Briand denkt nicht daran, sich heute
abzunutzen, und auch die Stunde des schlauen Caillaux hat noch nicht geschlagen.
Der Kellermann Clemenceau wird nicht ernst genommen, obgleich jeder seine
stilgewandten Ausfälle gegen die Regierung mit Behagen liest.

Man darf aber nicht in den Irrtum verfallen und in den augenblicklichen
inneren Kämpfen nichts als den üblichen Parteihader ministersüchtiger Häuptlinge
sehen. Der Bruch der vielgepriesenen „Union Sacröe" vollzieht sich mit
unbarmherziger Notwendigkeit. Die schroffen Gegensätze, die Frankreich seit
einem Jahrhundert zerreißen und beim Fall Dreyfuß bis an den Rand des
Bürgerkrieges gebracht haben, ließen sich in den Tagen der höchsten Gefahr
überbrücken, mußten aber, sobald sie vorüber war, wieder aufleben. Durch den
Krieg haben die reaktionären Klerikalen Oberwasser bekommen. In ihren Reihen
stehen die schlimmsten nationalistischen Heißsporne, die treuesten Anhänger der
Revancheidee, von der sich die Radikalsten und Sozialisten mehr oder weniger
losgesagt hatten. Daraus macht man den letzteren heute einen Vorwurf,
während ihre Gegner sich als echt französische Leute und Patrioten erster
Klasse aufspielen dürfen. Das Offizierkorps war von jeher streng kirchlich,
teilweise sogar antirepublikanisch gesinnt, besonders in den höheren Stellen,
und der Erfolg an der Marne, der geradezu als ein göttliches Wunder
gepriesen wird, gab diesen Kreisen und der von ihnen vertretenen Anschauung
eine ungemessene Volkstümlichkeit. Dazu kommt, daß die Not auch in
Frankreich beten lehrt und daß viele von den ehemaligen stolzen Freidenkern
unter dem Eindruck der schweren Verluste zur Messe zurückgekehrt sind. Gerade
die anwachsende kirchliche Gesinnung hat die Radikalen auf die Schanzen
gerufen. Die republikanische Staatsform selbst ist im Augenblick nicht bedroht,
aber sie zittern für andere mühsam erkämpfte freiheitliche Errungenschaften,
besonders für die absolute Trennung von Kirche und Staat. Dürften die
Radikalen und Sozialisten heute ihre Meinung offen aussprechen, so würden
sie lieber endgültig auf Elsaß-Lothringen verzichten, ja selbst die eine oder
andere Kolonie dazu geben, wenn sie das Land vor der Herrschaft des
Weihwedels bewahren könnten. Sie haben überhaupt von dem Kriege nichts
Zu erhoffen. Endet er wider Erwarten noch mit einem Erfolg, so wird die
reaktionäre Militärpartei den ganzen Ruhm einstecken; bleibt es bei den Mi߬
erfolgen, so tragen die Parteien die Verantwortung, die vor dem Krieg am
Ruder waren, aber nichts vorbereitet haben. In beiden Fällen triumphiert die
Reaktion, es fragt sich nur, ob sie als siegreicher Kriegsheld einzieht oder als
demütiger Priester den verirrten Schäflein ihr Haus öffnet.

Zwischen den beiden großen Gruppen, der klerikalen und der antiklerikalen,
steht die heutige Regierung ohne festen Halt im Parlament oder im Lande.
Aus Rücksicht auf die Armee wagt sie nicht den von den Radikalen geforderten
Kampf gegen die zunehmende kirchliche Gesinnung aufzunehmen und bricht lieber


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[0371] Frankreichs innere Lage des alten Combes wäre nur den ärgsten Kirchenfeinden willkommen und diese haben gründlich abgewirtschaftet; der kluge Briand denkt nicht daran, sich heute abzunutzen, und auch die Stunde des schlauen Caillaux hat noch nicht geschlagen. Der Kellermann Clemenceau wird nicht ernst genommen, obgleich jeder seine stilgewandten Ausfälle gegen die Regierung mit Behagen liest. Man darf aber nicht in den Irrtum verfallen und in den augenblicklichen inneren Kämpfen nichts als den üblichen Parteihader ministersüchtiger Häuptlinge sehen. Der Bruch der vielgepriesenen „Union Sacröe" vollzieht sich mit unbarmherziger Notwendigkeit. Die schroffen Gegensätze, die Frankreich seit einem Jahrhundert zerreißen und beim Fall Dreyfuß bis an den Rand des Bürgerkrieges gebracht haben, ließen sich in den Tagen der höchsten Gefahr überbrücken, mußten aber, sobald sie vorüber war, wieder aufleben. Durch den Krieg haben die reaktionären Klerikalen Oberwasser bekommen. In ihren Reihen stehen die schlimmsten nationalistischen Heißsporne, die treuesten Anhänger der Revancheidee, von der sich die Radikalsten und Sozialisten mehr oder weniger losgesagt hatten. Daraus macht man den letzteren heute einen Vorwurf, während ihre Gegner sich als echt französische Leute und Patrioten erster Klasse aufspielen dürfen. Das Offizierkorps war von jeher streng kirchlich, teilweise sogar antirepublikanisch gesinnt, besonders in den höheren Stellen, und der Erfolg an der Marne, der geradezu als ein göttliches Wunder gepriesen wird, gab diesen Kreisen und der von ihnen vertretenen Anschauung eine ungemessene Volkstümlichkeit. Dazu kommt, daß die Not auch in Frankreich beten lehrt und daß viele von den ehemaligen stolzen Freidenkern unter dem Eindruck der schweren Verluste zur Messe zurückgekehrt sind. Gerade die anwachsende kirchliche Gesinnung hat die Radikalen auf die Schanzen gerufen. Die republikanische Staatsform selbst ist im Augenblick nicht bedroht, aber sie zittern für andere mühsam erkämpfte freiheitliche Errungenschaften, besonders für die absolute Trennung von Kirche und Staat. Dürften die Radikalen und Sozialisten heute ihre Meinung offen aussprechen, so würden sie lieber endgültig auf Elsaß-Lothringen verzichten, ja selbst die eine oder andere Kolonie dazu geben, wenn sie das Land vor der Herrschaft des Weihwedels bewahren könnten. Sie haben überhaupt von dem Kriege nichts Zu erhoffen. Endet er wider Erwarten noch mit einem Erfolg, so wird die reaktionäre Militärpartei den ganzen Ruhm einstecken; bleibt es bei den Mi߬ erfolgen, so tragen die Parteien die Verantwortung, die vor dem Krieg am Ruder waren, aber nichts vorbereitet haben. In beiden Fällen triumphiert die Reaktion, es fragt sich nur, ob sie als siegreicher Kriegsheld einzieht oder als demütiger Priester den verirrten Schäflein ihr Haus öffnet. Zwischen den beiden großen Gruppen, der klerikalen und der antiklerikalen, steht die heutige Regierung ohne festen Halt im Parlament oder im Lande. Aus Rücksicht auf die Armee wagt sie nicht den von den Radikalen geforderten Kampf gegen die zunehmende kirchliche Gesinnung aufzunehmen und bricht lieber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/371>, abgerufen am 17.06.2024.