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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

mit einem tugendhaften Schlußeffekt: der
Vater vergibt. Emma heiratet dann einen
Verwundeten, der das Kind anerkennt. Der
Sohn, siebzehn Jahre alt, tritt freiwillig ein
und verliert im Schützengraben alles Theater-
Hafte, Gemachte. "Er hat sich in einen wirk¬
lichen Helden verwandelt, der auf die fürs
Publikum berechnete Gebärde verzichtet."
Dies alles, höchst lustig zu lesen, wird in
einen: gemächlich dahinfließenden Stile er¬
zählt; und nur hin und wieder unterbricht
ihn das kräftigere Gefälle selbstsicheren vater¬
ländischen Schwunges. Trotz der fast sach¬
lichen Sprache, hört man eine verborgene
Symbolik hindurchklingen: wie der junge
Valadier, so soll auch das ganze Volk in
diesem Kriege lernen, alles Theatralische,
Dekorative ablegen und sich an ein ein¬
faches, natürliches Heldentum gewöhnen.

Mehr als unterhalten will aber der im
Grunde etwas gleichgültige Hermant nicht.
Stärker ergreift die leidenschaftliche Marcelle
Tinayre, die in ihrem Roman "l^ veillöe
etes armes" die ersten Tage des Krieges,
die Stunden zitternder Erregung und schmerz¬
hafter Trennung nacherleben läßt. Ein ab¬
gelegenes Pariser Viertel bildet den Hinter¬
grund, das Wie eine Kleinstadt anmutet.
Alle Leute kennen sich. Da ist die Zeitungs-
händlerin, die für ihren Stolz, den einzigen
Sohn, sich alles vom Munde abspart; der
Kaufmann an der Ecke, der sofort bei Kriegs¬
ausbruch die Preise hinaufschraubte; die
blasse Blumenhändlerin mit dem eleganten
Morgenkleid; die allwissende Pförtnersfrau
und die vornehmen Mieter des modernen
Hauses. Der Krieg zerstört das idyllische
Leben dieser großen Familie. Das Schicksal
eines jeden wird mithineingezogen in die
große Not. Doch die Erlebnisse dieser
Dutzendwesen bilden nur den Rahmen.
Zwei Menschen, durch junge Liebe aneinander
gekettet, haben begonnen, ein gemeinsames
Leben voll Schönheit auszubauen. Aber auch
sie müssen sich trennen, sie, die das Leben
inniger, klarer und bewußter empfinden als
andere, die nur in der Liebe leben können.
Und dieser Abschied, dessen Schwere sie
mit selbstquälerischer Genauigkeit durchkosten
wollen, ist ein einziger hoffnungsloser Schrei,

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ein machtloses Schluchzen. Dieses Buch ist
mehr als ein Roman; es ist der wahre und
menschliche Ausdruck einer empfindenden
Seele.

Dr. Fritz Roevke
Theologie

Kriegsprcdigtcn von l). Hunzinger,
Hauptpastor zu Se. Michaelis in Hamburg.
Drei Bände. Heroldsche Buchhandlung in
Hamburg. Preis des tard, Bändchens 1 M.

Vielleicht war eS zu keiner Zeit dankbarer
und interessanter zu Predigen, als heute. Die
gärende Erregung, die mit der Kriegser¬
klärung im deutschen Volke geweckt wurde,
zwang die evangelischen Pfarrer, schärfer und
pointierter die Predigt als Verkündigung
gegenwärtigen Christentums zu gestalten,
lebendiger als vordem die Züge aus dem
Charakter des Gebets hervortreten zu lassen.
Dank dem obersten, sieghaften Grundsatz des
realistischen Kanons, dem Satz von der
Wichtigkeit des Milieus, werden diese Züge
und Linien in den vorstehenden Kriegspredigten
des Hamburger Hauptpastors v. Hunzinger
in großer Unmittelbarkeit lebendig. Zur
Vergleichung holte ich des Dresdener Ober-
Hofpredigers I). Franz Bolkmar Reinharts
Predigten aus den Jahren 1806--1815 her¬
vor. Wüßten wir nicht aus der Geschichte,
was diese Jahre für unser Volk bedeuten,
aus Reinharts einst vielbewunderten Predig¬
ten erführen wir es nie. Seine Predigten
leben und weben in rationalistischer Pflege
der Weisheit, der klassischen Reinheit der
Sprache, dem tiefgründigen Erforschen edler,
individueller Lebensanschauung, der klassischen
Harmonie abgeklärter Weltanschauung. Ganz
selten klingt die Not der Zeit einmal in
einer Neujahrspredigt an, nirgends zeigt sich
ein bewußtes Verhältnis zum nationalen
Ringen und Sehnen der Zeit. Wie muß
die Franzosenzeit auf dieser Welt gleich
einem Alp gelagert haben, daß sie weltab¬
gewandt aus der trüben Gegenwart Pol

ischer Verschwommenheit und Verfahrenheit
flüchtet in das Reich des Ideals, des ge-
schichtslosen Philosophierens über Weltbildung
und Lebensklugheit. Wie ganz anders malt
sich die heutige Welt in Hunzingers Kriegs-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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mit einem tugendhaften Schlußeffekt: der
Vater vergibt. Emma heiratet dann einen
Verwundeten, der das Kind anerkennt. Der
Sohn, siebzehn Jahre alt, tritt freiwillig ein
und verliert im Schützengraben alles Theater-
Hafte, Gemachte. „Er hat sich in einen wirk¬
lichen Helden verwandelt, der auf die fürs
Publikum berechnete Gebärde verzichtet."
Dies alles, höchst lustig zu lesen, wird in
einen: gemächlich dahinfließenden Stile er¬
zählt; und nur hin und wieder unterbricht
ihn das kräftigere Gefälle selbstsicheren vater¬
ländischen Schwunges. Trotz der fast sach¬
lichen Sprache, hört man eine verborgene
Symbolik hindurchklingen: wie der junge
Valadier, so soll auch das ganze Volk in
diesem Kriege lernen, alles Theatralische,
Dekorative ablegen und sich an ein ein¬
faches, natürliches Heldentum gewöhnen.

Mehr als unterhalten will aber der im
Grunde etwas gleichgültige Hermant nicht.
Stärker ergreift die leidenschaftliche Marcelle
Tinayre, die in ihrem Roman „l^ veillöe
etes armes" die ersten Tage des Krieges,
die Stunden zitternder Erregung und schmerz¬
hafter Trennung nacherleben läßt. Ein ab¬
gelegenes Pariser Viertel bildet den Hinter¬
grund, das Wie eine Kleinstadt anmutet.
Alle Leute kennen sich. Da ist die Zeitungs-
händlerin, die für ihren Stolz, den einzigen
Sohn, sich alles vom Munde abspart; der
Kaufmann an der Ecke, der sofort bei Kriegs¬
ausbruch die Preise hinaufschraubte; die
blasse Blumenhändlerin mit dem eleganten
Morgenkleid; die allwissende Pförtnersfrau
und die vornehmen Mieter des modernen
Hauses. Der Krieg zerstört das idyllische
Leben dieser großen Familie. Das Schicksal
eines jeden wird mithineingezogen in die
große Not. Doch die Erlebnisse dieser
Dutzendwesen bilden nur den Rahmen.
Zwei Menschen, durch junge Liebe aneinander
gekettet, haben begonnen, ein gemeinsames
Leben voll Schönheit auszubauen. Aber auch
sie müssen sich trennen, sie, die das Leben
inniger, klarer und bewußter empfinden als
andere, die nur in der Liebe leben können.
Und dieser Abschied, dessen Schwere sie
mit selbstquälerischer Genauigkeit durchkosten
wollen, ist ein einziger hoffnungsloser Schrei,

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ein machtloses Schluchzen. Dieses Buch ist
mehr als ein Roman; es ist der wahre und
menschliche Ausdruck einer empfindenden
Seele.

Dr. Fritz Roevke
Theologie

Kriegsprcdigtcn von l). Hunzinger,
Hauptpastor zu Se. Michaelis in Hamburg.
Drei Bände. Heroldsche Buchhandlung in
Hamburg. Preis des tard, Bändchens 1 M.

Vielleicht war eS zu keiner Zeit dankbarer
und interessanter zu Predigen, als heute. Die
gärende Erregung, die mit der Kriegser¬
klärung im deutschen Volke geweckt wurde,
zwang die evangelischen Pfarrer, schärfer und
pointierter die Predigt als Verkündigung
gegenwärtigen Christentums zu gestalten,
lebendiger als vordem die Züge aus dem
Charakter des Gebets hervortreten zu lassen.
Dank dem obersten, sieghaften Grundsatz des
realistischen Kanons, dem Satz von der
Wichtigkeit des Milieus, werden diese Züge
und Linien in den vorstehenden Kriegspredigten
des Hamburger Hauptpastors v. Hunzinger
in großer Unmittelbarkeit lebendig. Zur
Vergleichung holte ich des Dresdener Ober-
Hofpredigers I). Franz Bolkmar Reinharts
Predigten aus den Jahren 1806—1815 her¬
vor. Wüßten wir nicht aus der Geschichte,
was diese Jahre für unser Volk bedeuten,
aus Reinharts einst vielbewunderten Predig¬
ten erführen wir es nie. Seine Predigten
leben und weben in rationalistischer Pflege
der Weisheit, der klassischen Reinheit der
Sprache, dem tiefgründigen Erforschen edler,
individueller Lebensanschauung, der klassischen
Harmonie abgeklärter Weltanschauung. Ganz
selten klingt die Not der Zeit einmal in
einer Neujahrspredigt an, nirgends zeigt sich
ein bewußtes Verhältnis zum nationalen
Ringen und Sehnen der Zeit. Wie muß
die Franzosenzeit auf dieser Welt gleich
einem Alp gelagert haben, daß sie weltab¬
gewandt aus der trüben Gegenwart Pol

ischer Verschwommenheit und Verfahrenheit
flüchtet in das Reich des Ideals, des ge-
schichtslosen Philosophierens über Weltbildung
und Lebensklugheit. Wie ganz anders malt
sich die heutige Welt in Hunzingers Kriegs-

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[0102] Maßgebliches und Unmaßgebliches mit einem tugendhaften Schlußeffekt: der Vater vergibt. Emma heiratet dann einen Verwundeten, der das Kind anerkennt. Der Sohn, siebzehn Jahre alt, tritt freiwillig ein und verliert im Schützengraben alles Theater- Hafte, Gemachte. „Er hat sich in einen wirk¬ lichen Helden verwandelt, der auf die fürs Publikum berechnete Gebärde verzichtet." Dies alles, höchst lustig zu lesen, wird in einen: gemächlich dahinfließenden Stile er¬ zählt; und nur hin und wieder unterbricht ihn das kräftigere Gefälle selbstsicheren vater¬ ländischen Schwunges. Trotz der fast sach¬ lichen Sprache, hört man eine verborgene Symbolik hindurchklingen: wie der junge Valadier, so soll auch das ganze Volk in diesem Kriege lernen, alles Theatralische, Dekorative ablegen und sich an ein ein¬ faches, natürliches Heldentum gewöhnen. Mehr als unterhalten will aber der im Grunde etwas gleichgültige Hermant nicht. Stärker ergreift die leidenschaftliche Marcelle Tinayre, die in ihrem Roman „l^ veillöe etes armes" die ersten Tage des Krieges, die Stunden zitternder Erregung und schmerz¬ hafter Trennung nacherleben läßt. Ein ab¬ gelegenes Pariser Viertel bildet den Hinter¬ grund, das Wie eine Kleinstadt anmutet. Alle Leute kennen sich. Da ist die Zeitungs- händlerin, die für ihren Stolz, den einzigen Sohn, sich alles vom Munde abspart; der Kaufmann an der Ecke, der sofort bei Kriegs¬ ausbruch die Preise hinaufschraubte; die blasse Blumenhändlerin mit dem eleganten Morgenkleid; die allwissende Pförtnersfrau und die vornehmen Mieter des modernen Hauses. Der Krieg zerstört das idyllische Leben dieser großen Familie. Das Schicksal eines jeden wird mithineingezogen in die große Not. Doch die Erlebnisse dieser Dutzendwesen bilden nur den Rahmen. Zwei Menschen, durch junge Liebe aneinander gekettet, haben begonnen, ein gemeinsames Leben voll Schönheit auszubauen. Aber auch sie müssen sich trennen, sie, die das Leben inniger, klarer und bewußter empfinden als andere, die nur in der Liebe leben können. Und dieser Abschied, dessen Schwere sie mit selbstquälerischer Genauigkeit durchkosten wollen, ist ein einziger hoffnungsloser Schrei, ein machtloses Schluchzen. Dieses Buch ist mehr als ein Roman; es ist der wahre und menschliche Ausdruck einer empfindenden Seele. Dr. Fritz Roevke Theologie Kriegsprcdigtcn von l). Hunzinger, Hauptpastor zu Se. Michaelis in Hamburg. Drei Bände. Heroldsche Buchhandlung in Hamburg. Preis des tard, Bändchens 1 M. Vielleicht war eS zu keiner Zeit dankbarer und interessanter zu Predigen, als heute. Die gärende Erregung, die mit der Kriegser¬ klärung im deutschen Volke geweckt wurde, zwang die evangelischen Pfarrer, schärfer und pointierter die Predigt als Verkündigung gegenwärtigen Christentums zu gestalten, lebendiger als vordem die Züge aus dem Charakter des Gebets hervortreten zu lassen. Dank dem obersten, sieghaften Grundsatz des realistischen Kanons, dem Satz von der Wichtigkeit des Milieus, werden diese Züge und Linien in den vorstehenden Kriegspredigten des Hamburger Hauptpastors v. Hunzinger in großer Unmittelbarkeit lebendig. Zur Vergleichung holte ich des Dresdener Ober- Hofpredigers I). Franz Bolkmar Reinharts Predigten aus den Jahren 1806—1815 her¬ vor. Wüßten wir nicht aus der Geschichte, was diese Jahre für unser Volk bedeuten, aus Reinharts einst vielbewunderten Predig¬ ten erführen wir es nie. Seine Predigten leben und weben in rationalistischer Pflege der Weisheit, der klassischen Reinheit der Sprache, dem tiefgründigen Erforschen edler, individueller Lebensanschauung, der klassischen Harmonie abgeklärter Weltanschauung. Ganz selten klingt die Not der Zeit einmal in einer Neujahrspredigt an, nirgends zeigt sich ein bewußtes Verhältnis zum nationalen Ringen und Sehnen der Zeit. Wie muß die Franzosenzeit auf dieser Welt gleich einem Alp gelagert haben, daß sie weltab¬ gewandt aus der trüben Gegenwart Pol n¬ ischer Verschwommenheit und Verfahrenheit flüchtet in das Reich des Ideals, des ge- schichtslosen Philosophierens über Weltbildung und Lebensklugheit. Wie ganz anders malt sich die heutige Welt in Hunzingers Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/102>, abgerufen am 06.05.2024.