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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Religion und Volk
von Dr. Fritz Rocpke

er Ursprung aller Religionen ist auch der Ausgangspunkt unserer
religiösen Sehnsucht, die der Krieg geweckt hat: Not lehrt beten.
Wie der primitive Mensch bei einer höheren Macht Schutz suchte
gegen die feindlichen und überwältigenden Naturkräfte, wie die
besten unter den Juden sich heraussehntm aus der ertötenden
Äußerlichkeit des Gesetzes, so empfinden wir das Bedürfnis nach Befreiung von
der erdrückenden Not des Krieges und suchen seelischen Halt in einer höheren,
über diese Wirklichkeit erhabenen Idee.

Es ist natürlich, daß dieses Erlösungsbedürfnis je nach dem Grade der
inneren Kraft und der Wahrhaftigkeit des betreffenden Menschen verschieden stark
und verschieden umfassend erscheint. In einem früheren Grenzbotenheft (Ur. 30,
1915), in dem ich Zeugnisse religiöser Empfänglichkeit beibrachte und diese für unsere
religiöse Zukunft bewertete, hatte ich versucht, die Steigerung des Empfindens
in drei verschiedenen Stufen des Gebets darzustellen. Das Ursprüngliche,
Triebhafteste ist der Selbsterhaltungstrieb des eigenen Leibes. Der Mensch,
in dem bezwingender Gefühl seiner eigenen Ohnmacht, klammert sich an über¬
natürliche und übermenschliche Hilfe, mit der er die Vernichtung des eigenen
Selbst zu verhindern hofft. Das zweite war ein Abwenden von der körperlichen
Not, ein Erlösungsdrang von den Schrecken der Schlacht zu geistiger Ruhe und
Glückseligkeit, ein Nichtmehrempfindenwollen der Wirklichkeit, eine Himmelssehnsucht,
der Glaube an etwas Überirdisches, ewig Feststehendes, das trotz der verwirrenden
Schrecklichkeit der umgebenden Welt bestehen bleibt. Auf der dritten Stufe endlich
steht das religiöse Gefühl, das in der eigenen Seele die Kraft findet, die Wirk¬
lichkeit aufzunehmen und zu überwinden; in dem Bewußtsein, höchste, heiligste
Pflicht zu erfüllen, in dem Sicheinsfühlen mit dem göttlichen Willen, der sich
uns in unserem Kampfe um die völkische Selbsterhaltung offenbart.

Alle drei Formen religiösen Empfindens haben als gemeinsame seelische
Grundlage die Sehnsucht nach Erhaltung des Lebens und nach Teilnahme am
Ewig-Dauernden, Unendlichen. Das ist ein urmenschlicher Trieb. "Das sieht
fast wie Trotz aus", sagt Bierbaum in seinen Reisegeschichten von den ägyptischen
Totenkammern und konservierten Leichen. "Auf alle Fälle ist es der Ausfluß
einer ungeheuren Entschlossenheit, Menschliches als das Bleibende im ewigen




Religion und Volk
von Dr. Fritz Rocpke

er Ursprung aller Religionen ist auch der Ausgangspunkt unserer
religiösen Sehnsucht, die der Krieg geweckt hat: Not lehrt beten.
Wie der primitive Mensch bei einer höheren Macht Schutz suchte
gegen die feindlichen und überwältigenden Naturkräfte, wie die
besten unter den Juden sich heraussehntm aus der ertötenden
Äußerlichkeit des Gesetzes, so empfinden wir das Bedürfnis nach Befreiung von
der erdrückenden Not des Krieges und suchen seelischen Halt in einer höheren,
über diese Wirklichkeit erhabenen Idee.

Es ist natürlich, daß dieses Erlösungsbedürfnis je nach dem Grade der
inneren Kraft und der Wahrhaftigkeit des betreffenden Menschen verschieden stark
und verschieden umfassend erscheint. In einem früheren Grenzbotenheft (Ur. 30,
1915), in dem ich Zeugnisse religiöser Empfänglichkeit beibrachte und diese für unsere
religiöse Zukunft bewertete, hatte ich versucht, die Steigerung des Empfindens
in drei verschiedenen Stufen des Gebets darzustellen. Das Ursprüngliche,
Triebhafteste ist der Selbsterhaltungstrieb des eigenen Leibes. Der Mensch,
in dem bezwingender Gefühl seiner eigenen Ohnmacht, klammert sich an über¬
natürliche und übermenschliche Hilfe, mit der er die Vernichtung des eigenen
Selbst zu verhindern hofft. Das zweite war ein Abwenden von der körperlichen
Not, ein Erlösungsdrang von den Schrecken der Schlacht zu geistiger Ruhe und
Glückseligkeit, ein Nichtmehrempfindenwollen der Wirklichkeit, eine Himmelssehnsucht,
der Glaube an etwas Überirdisches, ewig Feststehendes, das trotz der verwirrenden
Schrecklichkeit der umgebenden Welt bestehen bleibt. Auf der dritten Stufe endlich
steht das religiöse Gefühl, das in der eigenen Seele die Kraft findet, die Wirk¬
lichkeit aufzunehmen und zu überwinden; in dem Bewußtsein, höchste, heiligste
Pflicht zu erfüllen, in dem Sicheinsfühlen mit dem göttlichen Willen, der sich
uns in unserem Kampfe um die völkische Selbsterhaltung offenbart.

Alle drei Formen religiösen Empfindens haben als gemeinsame seelische
Grundlage die Sehnsucht nach Erhaltung des Lebens und nach Teilnahme am
Ewig-Dauernden, Unendlichen. Das ist ein urmenschlicher Trieb. „Das sieht
fast wie Trotz aus", sagt Bierbaum in seinen Reisegeschichten von den ägyptischen
Totenkammern und konservierten Leichen. „Auf alle Fälle ist es der Ausfluß
einer ungeheuren Entschlossenheit, Menschliches als das Bleibende im ewigen


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[0102] [Abbildung] Religion und Volk von Dr. Fritz Rocpke er Ursprung aller Religionen ist auch der Ausgangspunkt unserer religiösen Sehnsucht, die der Krieg geweckt hat: Not lehrt beten. Wie der primitive Mensch bei einer höheren Macht Schutz suchte gegen die feindlichen und überwältigenden Naturkräfte, wie die besten unter den Juden sich heraussehntm aus der ertötenden Äußerlichkeit des Gesetzes, so empfinden wir das Bedürfnis nach Befreiung von der erdrückenden Not des Krieges und suchen seelischen Halt in einer höheren, über diese Wirklichkeit erhabenen Idee. Es ist natürlich, daß dieses Erlösungsbedürfnis je nach dem Grade der inneren Kraft und der Wahrhaftigkeit des betreffenden Menschen verschieden stark und verschieden umfassend erscheint. In einem früheren Grenzbotenheft (Ur. 30, 1915), in dem ich Zeugnisse religiöser Empfänglichkeit beibrachte und diese für unsere religiöse Zukunft bewertete, hatte ich versucht, die Steigerung des Empfindens in drei verschiedenen Stufen des Gebets darzustellen. Das Ursprüngliche, Triebhafteste ist der Selbsterhaltungstrieb des eigenen Leibes. Der Mensch, in dem bezwingender Gefühl seiner eigenen Ohnmacht, klammert sich an über¬ natürliche und übermenschliche Hilfe, mit der er die Vernichtung des eigenen Selbst zu verhindern hofft. Das zweite war ein Abwenden von der körperlichen Not, ein Erlösungsdrang von den Schrecken der Schlacht zu geistiger Ruhe und Glückseligkeit, ein Nichtmehrempfindenwollen der Wirklichkeit, eine Himmelssehnsucht, der Glaube an etwas Überirdisches, ewig Feststehendes, das trotz der verwirrenden Schrecklichkeit der umgebenden Welt bestehen bleibt. Auf der dritten Stufe endlich steht das religiöse Gefühl, das in der eigenen Seele die Kraft findet, die Wirk¬ lichkeit aufzunehmen und zu überwinden; in dem Bewußtsein, höchste, heiligste Pflicht zu erfüllen, in dem Sicheinsfühlen mit dem göttlichen Willen, der sich uns in unserem Kampfe um die völkische Selbsterhaltung offenbart. Alle drei Formen religiösen Empfindens haben als gemeinsame seelische Grundlage die Sehnsucht nach Erhaltung des Lebens und nach Teilnahme am Ewig-Dauernden, Unendlichen. Das ist ein urmenschlicher Trieb. „Das sieht fast wie Trotz aus", sagt Bierbaum in seinen Reisegeschichten von den ägyptischen Totenkammern und konservierten Leichen. „Auf alle Fälle ist es der Ausfluß einer ungeheuren Entschlossenheit, Menschliches als das Bleibende im ewigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/102>, abgerufen am 28.04.2024.