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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Leibniz und der deutsche Geist
Zum zweihundertsten Todestage Leibnizens am ^. November
von Dr. Gerhard Schultze-Pfaelzer

em heutigen Geschlecht ist Leibniz nicht viel mehr als ein be¬
rühmter Name, sein Lebenswerk ist dem Bewußtsein der Ge¬
bildeten allmählich verloren gegangen, und seine Schriften werden
fast nur noch von dem Fachphilosophen gelesen. Seinen beiden
größten Nachfahren in der Welt des deutschen Denkens ist es in
dieser Hinsicht besser ergangen: Kant regt noch heute viele zum vertieften
Studium seiner sicherlich nicht leichter zu durchdringenden Werke an, und Hegels
Weltanstcht ist auch heute noch jedem geistig Weiterstrebenden wohl vertraut.
Und doch ist Leibniz der Vater der deutschen Philosophie und unseres gesamten
Bildungslebens. Aber es geht ihm ungefähr so wie Klopstock in unserer
Dichtung: jederman weiß, daß dieser nach Hebbels Wort der deutschen Poesie
die Saiten geschaffen hat, auf denen sie dann mächtig zu schlagen begann, aber
niemand hat mehr den ernsthaften Willen, seinen eigenen Tönen zu lauschen.
In der Philosophie war die große, besondere Tat des deutschen Volkes die
theoretische und praktische Neubegründung und Ausgestaltung des Idealismus,
eine Tat, deren geniale Bedeutsamkeit wir heute nur noch sehr schwer voll er¬
messen können, weil die idealistische Weltanschauung längst zu den Selbstver¬
ständlichkeiten unserer Bildungsvorstellungen gehört. Daß der Geist das be¬
herrschende Prinzip aller natürlichen Ordnungen ist, daß die Welt der Körper
und materiellen Zustände nur einen unvollkommenen Ausfluß geistiger Kräfte
darstellt, daß der eine, unendliche Geist alle Formen des Daseins bildet und be¬
herrscht, ist uns von vielen Denkern nach Leibniz wesentlich schmackhafter und an¬
ziehender gesagt worden. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Leibniz der erste war,
der diese Gedankengänge vortrug, und mehr als das, der alle diese Ideen bereits zu
einem großartigen Gesamtsystem zusammenschloß, aus dem spätere Philosophen sich
die Grundelemente ihrer eigenen Metaphysik zusammenlasen, die sie dann im
Zeitalter einer weitergeschrittenen Forschung methodischer verarbeiten konnten.

Und es ist gewiß dabei beachtenswert, daß Leibniz aus der andern großen
Quelle, aus der sich die späteren Theoretiker des deutschen Idealismus immer
neu befruchteten, aus Platon, nur sehr wenig, um nicht zu sagen, gar nichts
geschöpft hat. Als Schelling sein "System des transzendentalen Idealismus"
schrieb, als Hegel den stolzen Gedankenbau seiner metaphysischen Logik auf-
türmte, stand, durch die neuhumanistischen Studien jung belebt, Platon als




Leibniz und der deutsche Geist
Zum zweihundertsten Todestage Leibnizens am ^. November
von Dr. Gerhard Schultze-Pfaelzer

em heutigen Geschlecht ist Leibniz nicht viel mehr als ein be¬
rühmter Name, sein Lebenswerk ist dem Bewußtsein der Ge¬
bildeten allmählich verloren gegangen, und seine Schriften werden
fast nur noch von dem Fachphilosophen gelesen. Seinen beiden
größten Nachfahren in der Welt des deutschen Denkens ist es in
dieser Hinsicht besser ergangen: Kant regt noch heute viele zum vertieften
Studium seiner sicherlich nicht leichter zu durchdringenden Werke an, und Hegels
Weltanstcht ist auch heute noch jedem geistig Weiterstrebenden wohl vertraut.
Und doch ist Leibniz der Vater der deutschen Philosophie und unseres gesamten
Bildungslebens. Aber es geht ihm ungefähr so wie Klopstock in unserer
Dichtung: jederman weiß, daß dieser nach Hebbels Wort der deutschen Poesie
die Saiten geschaffen hat, auf denen sie dann mächtig zu schlagen begann, aber
niemand hat mehr den ernsthaften Willen, seinen eigenen Tönen zu lauschen.
In der Philosophie war die große, besondere Tat des deutschen Volkes die
theoretische und praktische Neubegründung und Ausgestaltung des Idealismus,
eine Tat, deren geniale Bedeutsamkeit wir heute nur noch sehr schwer voll er¬
messen können, weil die idealistische Weltanschauung längst zu den Selbstver¬
ständlichkeiten unserer Bildungsvorstellungen gehört. Daß der Geist das be¬
herrschende Prinzip aller natürlichen Ordnungen ist, daß die Welt der Körper
und materiellen Zustände nur einen unvollkommenen Ausfluß geistiger Kräfte
darstellt, daß der eine, unendliche Geist alle Formen des Daseins bildet und be¬
herrscht, ist uns von vielen Denkern nach Leibniz wesentlich schmackhafter und an¬
ziehender gesagt worden. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Leibniz der erste war,
der diese Gedankengänge vortrug, und mehr als das, der alle diese Ideen bereits zu
einem großartigen Gesamtsystem zusammenschloß, aus dem spätere Philosophen sich
die Grundelemente ihrer eigenen Metaphysik zusammenlasen, die sie dann im
Zeitalter einer weitergeschrittenen Forschung methodischer verarbeiten konnten.

Und es ist gewiß dabei beachtenswert, daß Leibniz aus der andern großen
Quelle, aus der sich die späteren Theoretiker des deutschen Idealismus immer
neu befruchteten, aus Platon, nur sehr wenig, um nicht zu sagen, gar nichts
geschöpft hat. Als Schelling sein „System des transzendentalen Idealismus"
schrieb, als Hegel den stolzen Gedankenbau seiner metaphysischen Logik auf-
türmte, stand, durch die neuhumanistischen Studien jung belebt, Platon als


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[0183] [Abbildung] Leibniz und der deutsche Geist Zum zweihundertsten Todestage Leibnizens am ^. November von Dr. Gerhard Schultze-Pfaelzer em heutigen Geschlecht ist Leibniz nicht viel mehr als ein be¬ rühmter Name, sein Lebenswerk ist dem Bewußtsein der Ge¬ bildeten allmählich verloren gegangen, und seine Schriften werden fast nur noch von dem Fachphilosophen gelesen. Seinen beiden größten Nachfahren in der Welt des deutschen Denkens ist es in dieser Hinsicht besser ergangen: Kant regt noch heute viele zum vertieften Studium seiner sicherlich nicht leichter zu durchdringenden Werke an, und Hegels Weltanstcht ist auch heute noch jedem geistig Weiterstrebenden wohl vertraut. Und doch ist Leibniz der Vater der deutschen Philosophie und unseres gesamten Bildungslebens. Aber es geht ihm ungefähr so wie Klopstock in unserer Dichtung: jederman weiß, daß dieser nach Hebbels Wort der deutschen Poesie die Saiten geschaffen hat, auf denen sie dann mächtig zu schlagen begann, aber niemand hat mehr den ernsthaften Willen, seinen eigenen Tönen zu lauschen. In der Philosophie war die große, besondere Tat des deutschen Volkes die theoretische und praktische Neubegründung und Ausgestaltung des Idealismus, eine Tat, deren geniale Bedeutsamkeit wir heute nur noch sehr schwer voll er¬ messen können, weil die idealistische Weltanschauung längst zu den Selbstver¬ ständlichkeiten unserer Bildungsvorstellungen gehört. Daß der Geist das be¬ herrschende Prinzip aller natürlichen Ordnungen ist, daß die Welt der Körper und materiellen Zustände nur einen unvollkommenen Ausfluß geistiger Kräfte darstellt, daß der eine, unendliche Geist alle Formen des Daseins bildet und be¬ herrscht, ist uns von vielen Denkern nach Leibniz wesentlich schmackhafter und an¬ ziehender gesagt worden. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Leibniz der erste war, der diese Gedankengänge vortrug, und mehr als das, der alle diese Ideen bereits zu einem großartigen Gesamtsystem zusammenschloß, aus dem spätere Philosophen sich die Grundelemente ihrer eigenen Metaphysik zusammenlasen, die sie dann im Zeitalter einer weitergeschrittenen Forschung methodischer verarbeiten konnten. Und es ist gewiß dabei beachtenswert, daß Leibniz aus der andern großen Quelle, aus der sich die späteren Theoretiker des deutschen Idealismus immer neu befruchteten, aus Platon, nur sehr wenig, um nicht zu sagen, gar nichts geschöpft hat. Als Schelling sein „System des transzendentalen Idealismus" schrieb, als Hegel den stolzen Gedankenbau seiner metaphysischen Logik auf- türmte, stand, durch die neuhumanistischen Studien jung belebt, Platon als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/183>, abgerufen am 28.04.2024.