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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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(öffentlicher Geist
von Rudolf Borchardt

es habe ein Mitgefühl mit dem Durchschnittsdeutschen.- nicht mit
dem freilich, der steht, wo gestürmt und gestorben wird und wo
das deutsche Gesicht einen neuen, noch unbeschreiblichen Zuschnitt
weltgeschichtlicher Endgültigkeit empfängt. Für diesen Deutschen
habe ich eine ganze Anzahl von Gefühlen, die jetzt zu bezeichnen
kein Anlaß besteht, nur nicht eben "Mitgefühl". Auch geht mein Mitgefühl
für den Durchschnittsdeutschen weder auf seine Magenuöte, noch seine Beutel¬
schmerzen, noch überhaupt auf seine Beziehungen zu der evangelischen Kategorie
der Güter, die Motten und der Rost fressen und die Diebe nach graben und
stehlen: ich kenne ihn, und weiß wie er mit diesen Nöten, Schmerzen und Be¬
ziehungen fertig werden wird -- es ist eine Frage von Zeit und von Mitteln,
die er haben, die er finden wird, und sie stimmt mich nicht übermäßig neu¬
gierig. Neugierig aber, und mit einem Mitgefühl, in demi eine kleine traurige
Bitterkeit und ein ganz winziges Gefühl des Lächelnmüssens wider Willen
sich zu Humor zusammenziehen, sehe ich dem Durchschnittsdeutschen in seinen
politischen Nöten zu. Dem Deutschen, der sich plötzlich um öffentliche Dinge
kümmern soll, die weder wirtschaftliche noch lokale sind: dem Durchschnitts¬
deutschen der Kriegsziele, der Weltprobleme, der Neuorientierung, der Freien
Bahn, die keine Vizinalbahn ist, sondern jedem Tüchtigen gehören soll. Dieser
Deutsche ist eine Märchenfigur und daher eine höchst reale, höchst lehrreiche
Figur, in der ein tiefstes sittliches Problem steckt. Er ist der Unglückspeter
aus dem Märchen von den "Drei Wünschen", mit denen einer sich in die ver¬
wünschtesten Lagen hineingewünscht hat; aber er soll aussehen wie Hans im
Mücke. Er hat darüber zu entscheiden, wer unser Hauptfeind ist. Er hat das
Auswärtige Amt und die diplomatische Karriere zu reformieren. Er soll freiheit-
lichen Geist in die Verwaltungen bringen, vermutlich aus jener Überfülle davon,
über die er notorisch verfügt und die er in seinem Privatleben und seinen


Grenzboten IV 1916 26


(öffentlicher Geist
von Rudolf Borchardt

es habe ein Mitgefühl mit dem Durchschnittsdeutschen.- nicht mit
dem freilich, der steht, wo gestürmt und gestorben wird und wo
das deutsche Gesicht einen neuen, noch unbeschreiblichen Zuschnitt
weltgeschichtlicher Endgültigkeit empfängt. Für diesen Deutschen
habe ich eine ganze Anzahl von Gefühlen, die jetzt zu bezeichnen
kein Anlaß besteht, nur nicht eben „Mitgefühl". Auch geht mein Mitgefühl
für den Durchschnittsdeutschen weder auf seine Magenuöte, noch seine Beutel¬
schmerzen, noch überhaupt auf seine Beziehungen zu der evangelischen Kategorie
der Güter, die Motten und der Rost fressen und die Diebe nach graben und
stehlen: ich kenne ihn, und weiß wie er mit diesen Nöten, Schmerzen und Be¬
ziehungen fertig werden wird — es ist eine Frage von Zeit und von Mitteln,
die er haben, die er finden wird, und sie stimmt mich nicht übermäßig neu¬
gierig. Neugierig aber, und mit einem Mitgefühl, in demi eine kleine traurige
Bitterkeit und ein ganz winziges Gefühl des Lächelnmüssens wider Willen
sich zu Humor zusammenziehen, sehe ich dem Durchschnittsdeutschen in seinen
politischen Nöten zu. Dem Deutschen, der sich plötzlich um öffentliche Dinge
kümmern soll, die weder wirtschaftliche noch lokale sind: dem Durchschnitts¬
deutschen der Kriegsziele, der Weltprobleme, der Neuorientierung, der Freien
Bahn, die keine Vizinalbahn ist, sondern jedem Tüchtigen gehören soll. Dieser
Deutsche ist eine Märchenfigur und daher eine höchst reale, höchst lehrreiche
Figur, in der ein tiefstes sittliches Problem steckt. Er ist der Unglückspeter
aus dem Märchen von den „Drei Wünschen", mit denen einer sich in die ver¬
wünschtesten Lagen hineingewünscht hat; aber er soll aussehen wie Hans im
Mücke. Er hat darüber zu entscheiden, wer unser Hauptfeind ist. Er hat das
Auswärtige Amt und die diplomatische Karriere zu reformieren. Er soll freiheit-
lichen Geist in die Verwaltungen bringen, vermutlich aus jener Überfülle davon,
über die er notorisch verfügt und die er in seinem Privatleben und seinen


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[0397] [Abbildung] (öffentlicher Geist von Rudolf Borchardt es habe ein Mitgefühl mit dem Durchschnittsdeutschen.- nicht mit dem freilich, der steht, wo gestürmt und gestorben wird und wo das deutsche Gesicht einen neuen, noch unbeschreiblichen Zuschnitt weltgeschichtlicher Endgültigkeit empfängt. Für diesen Deutschen habe ich eine ganze Anzahl von Gefühlen, die jetzt zu bezeichnen kein Anlaß besteht, nur nicht eben „Mitgefühl". Auch geht mein Mitgefühl für den Durchschnittsdeutschen weder auf seine Magenuöte, noch seine Beutel¬ schmerzen, noch überhaupt auf seine Beziehungen zu der evangelischen Kategorie der Güter, die Motten und der Rost fressen und die Diebe nach graben und stehlen: ich kenne ihn, und weiß wie er mit diesen Nöten, Schmerzen und Be¬ ziehungen fertig werden wird — es ist eine Frage von Zeit und von Mitteln, die er haben, die er finden wird, und sie stimmt mich nicht übermäßig neu¬ gierig. Neugierig aber, und mit einem Mitgefühl, in demi eine kleine traurige Bitterkeit und ein ganz winziges Gefühl des Lächelnmüssens wider Willen sich zu Humor zusammenziehen, sehe ich dem Durchschnittsdeutschen in seinen politischen Nöten zu. Dem Deutschen, der sich plötzlich um öffentliche Dinge kümmern soll, die weder wirtschaftliche noch lokale sind: dem Durchschnitts¬ deutschen der Kriegsziele, der Weltprobleme, der Neuorientierung, der Freien Bahn, die keine Vizinalbahn ist, sondern jedem Tüchtigen gehören soll. Dieser Deutsche ist eine Märchenfigur und daher eine höchst reale, höchst lehrreiche Figur, in der ein tiefstes sittliches Problem steckt. Er ist der Unglückspeter aus dem Märchen von den „Drei Wünschen", mit denen einer sich in die ver¬ wünschtesten Lagen hineingewünscht hat; aber er soll aussehen wie Hans im Mücke. Er hat darüber zu entscheiden, wer unser Hauptfeind ist. Er hat das Auswärtige Amt und die diplomatische Karriere zu reformieren. Er soll freiheit- lichen Geist in die Verwaltungen bringen, vermutlich aus jener Überfülle davon, über die er notorisch verfügt und die er in seinem Privatleben und seinen Grenzboten IV 1916 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/397>, abgerufen am 28.04.2024.