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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Goethes häusliches Leben
von Julius R. Haarhaus

Hakespeare der Dichter steht als scharf umrissene Persönlichkeit vor
unseren Augen, obgleich wir über Shakespeare den Menschen nur
dürftige Nachrichten besitzen, die noch dazu in der Hauptsache auf
spät entstandenen Legenden beruhen; in Lessings Werke vertiefen
wir uns, ohne daß uns dabei das Verlangen anwandelt, uns
eingehender mit seinen Lebensumständen bekannt zu machen, und bei Schiller
haben wir sogar das dunkle Gefühl, daß uns der Zwiespalt zwischen seinem
kümmerlichen, von materieller Not und Krankheit eingeengten Erdenwallen
und seinem himmelstürmenden Gedankenfluge den Genuß seiner dichterischen
Schöpfungen eher beeinträchtigen als erhöhen müßte. Bei Goethe dagegen ist
uns jede Mitteilung willkommen, die seinem äußeren Bilde auch nur eine Linie
hinzufügt, seine Gestalt, sein Wesen, seine Lebensführung in neuer Beleuchtung
zeigt, oder auch Längstbekanntes aufs neue bestätigt. Die Klage, daß Werke
über Goethe mehr Leser fänden als Werke von Goethe, ist alt und gewiß
nicht ganz unberechtigt; aber man sollte nicht außer acht lassen, daß das
unübertroffene Hauptwerk des Altmeisters in der Tat sein Leben ist, zu dessen
zahlreichen Ausstrahlungen auch seine Schriften gehören. Streng kritisch be¬
trachtet, ist, von wenigen Gedichten abgesehen, bei allem Gedankenreichtum kein
einziges seiner Werke in Form und Inhalt von vorbildlicher Vollkommenheit,
wie denn auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, so befruchtend sie auch auf
die spätere Forschung eingewirkt haben, unleugbar den Stempel des Auto-
didaktentums und des Dilettantismus tragen. Vollkommen im höchsten Sinne
des Wortes sind erst Goethes Werke in ihrer Gesamtheit und mit dem Brenn¬
punkte seiner Persönlichkeit, in dem sich alle Strahlen der Außenwelt sammeln.
Und weil für ihn die Quelle aller Erkenntnis und damit zugleich auch allen
Schaffens die Welt um ihn her mit allen ihren Erscheinungen ist -- wie für
Shakespeare die Menschenseele, für Lessing der eigene kritische Verstand, für
Schiller die philosophische Spekulation --, so muß uns jede Veröffentlichung
willkommen sein, die uns den großen Lebenskünstler in irgendwelchen Be¬
ziehungen zur Umwelt zeigt.

Ein solches Buch, vielleicht den wichtigsten Beitrag zur Goethe-Literatur seit
dem Erscheinen der herrlichen "Briefe der Frau Rath Goethe", herausgegeben
von Albert Köster (Leipzig, Insel-Verlag, 1908), hat uns soeben Hans Gerhard




Goethes häusliches Leben
von Julius R. Haarhaus

Hakespeare der Dichter steht als scharf umrissene Persönlichkeit vor
unseren Augen, obgleich wir über Shakespeare den Menschen nur
dürftige Nachrichten besitzen, die noch dazu in der Hauptsache auf
spät entstandenen Legenden beruhen; in Lessings Werke vertiefen
wir uns, ohne daß uns dabei das Verlangen anwandelt, uns
eingehender mit seinen Lebensumständen bekannt zu machen, und bei Schiller
haben wir sogar das dunkle Gefühl, daß uns der Zwiespalt zwischen seinem
kümmerlichen, von materieller Not und Krankheit eingeengten Erdenwallen
und seinem himmelstürmenden Gedankenfluge den Genuß seiner dichterischen
Schöpfungen eher beeinträchtigen als erhöhen müßte. Bei Goethe dagegen ist
uns jede Mitteilung willkommen, die seinem äußeren Bilde auch nur eine Linie
hinzufügt, seine Gestalt, sein Wesen, seine Lebensführung in neuer Beleuchtung
zeigt, oder auch Längstbekanntes aufs neue bestätigt. Die Klage, daß Werke
über Goethe mehr Leser fänden als Werke von Goethe, ist alt und gewiß
nicht ganz unberechtigt; aber man sollte nicht außer acht lassen, daß das
unübertroffene Hauptwerk des Altmeisters in der Tat sein Leben ist, zu dessen
zahlreichen Ausstrahlungen auch seine Schriften gehören. Streng kritisch be¬
trachtet, ist, von wenigen Gedichten abgesehen, bei allem Gedankenreichtum kein
einziges seiner Werke in Form und Inhalt von vorbildlicher Vollkommenheit,
wie denn auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, so befruchtend sie auch auf
die spätere Forschung eingewirkt haben, unleugbar den Stempel des Auto-
didaktentums und des Dilettantismus tragen. Vollkommen im höchsten Sinne
des Wortes sind erst Goethes Werke in ihrer Gesamtheit und mit dem Brenn¬
punkte seiner Persönlichkeit, in dem sich alle Strahlen der Außenwelt sammeln.
Und weil für ihn die Quelle aller Erkenntnis und damit zugleich auch allen
Schaffens die Welt um ihn her mit allen ihren Erscheinungen ist — wie für
Shakespeare die Menschenseele, für Lessing der eigene kritische Verstand, für
Schiller die philosophische Spekulation —, so muß uns jede Veröffentlichung
willkommen sein, die uns den großen Lebenskünstler in irgendwelchen Be¬
ziehungen zur Umwelt zeigt.

Ein solches Buch, vielleicht den wichtigsten Beitrag zur Goethe-Literatur seit
dem Erscheinen der herrlichen „Briefe der Frau Rath Goethe", herausgegeben
von Albert Köster (Leipzig, Insel-Verlag, 1908), hat uns soeben Hans Gerhard


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[0062] [Abbildung] Goethes häusliches Leben von Julius R. Haarhaus Hakespeare der Dichter steht als scharf umrissene Persönlichkeit vor unseren Augen, obgleich wir über Shakespeare den Menschen nur dürftige Nachrichten besitzen, die noch dazu in der Hauptsache auf spät entstandenen Legenden beruhen; in Lessings Werke vertiefen wir uns, ohne daß uns dabei das Verlangen anwandelt, uns eingehender mit seinen Lebensumständen bekannt zu machen, und bei Schiller haben wir sogar das dunkle Gefühl, daß uns der Zwiespalt zwischen seinem kümmerlichen, von materieller Not und Krankheit eingeengten Erdenwallen und seinem himmelstürmenden Gedankenfluge den Genuß seiner dichterischen Schöpfungen eher beeinträchtigen als erhöhen müßte. Bei Goethe dagegen ist uns jede Mitteilung willkommen, die seinem äußeren Bilde auch nur eine Linie hinzufügt, seine Gestalt, sein Wesen, seine Lebensführung in neuer Beleuchtung zeigt, oder auch Längstbekanntes aufs neue bestätigt. Die Klage, daß Werke über Goethe mehr Leser fänden als Werke von Goethe, ist alt und gewiß nicht ganz unberechtigt; aber man sollte nicht außer acht lassen, daß das unübertroffene Hauptwerk des Altmeisters in der Tat sein Leben ist, zu dessen zahlreichen Ausstrahlungen auch seine Schriften gehören. Streng kritisch be¬ trachtet, ist, von wenigen Gedichten abgesehen, bei allem Gedankenreichtum kein einziges seiner Werke in Form und Inhalt von vorbildlicher Vollkommenheit, wie denn auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, so befruchtend sie auch auf die spätere Forschung eingewirkt haben, unleugbar den Stempel des Auto- didaktentums und des Dilettantismus tragen. Vollkommen im höchsten Sinne des Wortes sind erst Goethes Werke in ihrer Gesamtheit und mit dem Brenn¬ punkte seiner Persönlichkeit, in dem sich alle Strahlen der Außenwelt sammeln. Und weil für ihn die Quelle aller Erkenntnis und damit zugleich auch allen Schaffens die Welt um ihn her mit allen ihren Erscheinungen ist — wie für Shakespeare die Menschenseele, für Lessing der eigene kritische Verstand, für Schiller die philosophische Spekulation —, so muß uns jede Veröffentlichung willkommen sein, die uns den großen Lebenskünstler in irgendwelchen Be¬ ziehungen zur Umwelt zeigt. Ein solches Buch, vielleicht den wichtigsten Beitrag zur Goethe-Literatur seit dem Erscheinen der herrlichen „Briefe der Frau Rath Goethe", herausgegeben von Albert Köster (Leipzig, Insel-Verlag, 1908), hat uns soeben Hans Gerhard

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/62>, abgerufen am 28.04.2024.