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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Mitteleuropa
"Line Bücherbesprechung
Georg Lleinoro von

on zahlreichen Deutschen lebhaft begrüßt, von ganzen Parteigruppen
bekämpft, aber nur von wenigen Menschen in seinem vollen realen
Wert erfaßt, hat der geographisch-politische Begriff Mitteleuropa
Eingang in unsere Sprache gefunden, wie etwas ganz Selbstver¬
ständliches. Den meisten ist Mitteleuropa vertraut als Kartenbild,
an dessen rechter und linker Seite die deutschen und anderen Schützengräben entlang
laufen. Vielen hunderttausend Männern verbindet sich damit die Erinnerung an
eine fünf- bis sechstägige ununterbrochene Eisenbahnfahrt ohne Paß- und Zoll¬
revision, die sie von Flandern nach Bukarest oder von Mazedonien nach Kurland
geführt hat. Einige Auserwählte sind im Balkanzuge von Berlin nach Kon¬
stantinopel gereist und für die ist dann schon ebenso wie für die ehemalige Inter¬
nationale Schlafwagen-Betriebsgesellschaft das Wort zu der geschmacklosen Bildung
Mitropa zusammengeschmolzen. Aber was Mitteleuropa bedeutet und unter ge¬
wissen Voraussetzungen bedeuten könnte für jeden einzelnen von uns, für jeden
Volksstamm, der zwischen Nordsee und Bosporus um sein Dasein ringt, für die
einzelnen Gewerbe ebenso wie für die Staaten und nationalen Kulturen,
davon haben sich, wie schon gesagt, bisher nur ganz vereinzelte Persönlichkeiten
eine feste Vorstellung gemacht. Selbst die Schriftleitung des Fachblattes "Mittel¬
europa" kann unmöglich dem Kern der Sache nähergekommen sein, -- andernfalls
würde sie nicht unter der schönen Flagge fast ausschließlich Besprechungen, Nach¬
richten und anderes über die polnischen Dinge bringen. Die Polenfrage ist doch
noch nur ein Teil des mitteleuropäischen Problems und zwar ein Teil zweiter,
wenn nicht dritter Ordnung, wenn auch gewisse Kreise sie geflissentlich in den
Vordergrund drängen.

Über Mitteleuropa geographisch braucht nicht gehandelt zu werden; der
geographische Begriff ist in unserem Zusammenhange unerheblich, da er sich mit den
Wirtschafts und staatspolitischen Begriffen durchaus nicht zu decken braucht. Unser
politisches Ziel unter der Flagge Mitteleuropa wäre z. V. schon lebensfähig gemacht,


Grenzboten I 1918 ?


Mitteleuropa
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Georg Lleinoro von

on zahlreichen Deutschen lebhaft begrüßt, von ganzen Parteigruppen
bekämpft, aber nur von wenigen Menschen in seinem vollen realen
Wert erfaßt, hat der geographisch-politische Begriff Mitteleuropa
Eingang in unsere Sprache gefunden, wie etwas ganz Selbstver¬
ständliches. Den meisten ist Mitteleuropa vertraut als Kartenbild,
an dessen rechter und linker Seite die deutschen und anderen Schützengräben entlang
laufen. Vielen hunderttausend Männern verbindet sich damit die Erinnerung an
eine fünf- bis sechstägige ununterbrochene Eisenbahnfahrt ohne Paß- und Zoll¬
revision, die sie von Flandern nach Bukarest oder von Mazedonien nach Kurland
geführt hat. Einige Auserwählte sind im Balkanzuge von Berlin nach Kon¬
stantinopel gereist und für die ist dann schon ebenso wie für die ehemalige Inter¬
nationale Schlafwagen-Betriebsgesellschaft das Wort zu der geschmacklosen Bildung
Mitropa zusammengeschmolzen. Aber was Mitteleuropa bedeutet und unter ge¬
wissen Voraussetzungen bedeuten könnte für jeden einzelnen von uns, für jeden
Volksstamm, der zwischen Nordsee und Bosporus um sein Dasein ringt, für die
einzelnen Gewerbe ebenso wie für die Staaten und nationalen Kulturen,
davon haben sich, wie schon gesagt, bisher nur ganz vereinzelte Persönlichkeiten
eine feste Vorstellung gemacht. Selbst die Schriftleitung des Fachblattes „Mittel¬
europa" kann unmöglich dem Kern der Sache nähergekommen sein, — andernfalls
würde sie nicht unter der schönen Flagge fast ausschließlich Besprechungen, Nach¬
richten und anderes über die polnischen Dinge bringen. Die Polenfrage ist doch
noch nur ein Teil des mitteleuropäischen Problems und zwar ein Teil zweiter,
wenn nicht dritter Ordnung, wenn auch gewisse Kreise sie geflissentlich in den
Vordergrund drängen.

Über Mitteleuropa geographisch braucht nicht gehandelt zu werden; der
geographische Begriff ist in unserem Zusammenhange unerheblich, da er sich mit den
Wirtschafts und staatspolitischen Begriffen durchaus nicht zu decken braucht. Unser
politisches Ziel unter der Flagge Mitteleuropa wäre z. V. schon lebensfähig gemacht,


Grenzboten I 1918 ?
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[0045] [Abbildung] Mitteleuropa «Line Bücherbesprechung Georg Lleinoro von on zahlreichen Deutschen lebhaft begrüßt, von ganzen Parteigruppen bekämpft, aber nur von wenigen Menschen in seinem vollen realen Wert erfaßt, hat der geographisch-politische Begriff Mitteleuropa Eingang in unsere Sprache gefunden, wie etwas ganz Selbstver¬ ständliches. Den meisten ist Mitteleuropa vertraut als Kartenbild, an dessen rechter und linker Seite die deutschen und anderen Schützengräben entlang laufen. Vielen hunderttausend Männern verbindet sich damit die Erinnerung an eine fünf- bis sechstägige ununterbrochene Eisenbahnfahrt ohne Paß- und Zoll¬ revision, die sie von Flandern nach Bukarest oder von Mazedonien nach Kurland geführt hat. Einige Auserwählte sind im Balkanzuge von Berlin nach Kon¬ stantinopel gereist und für die ist dann schon ebenso wie für die ehemalige Inter¬ nationale Schlafwagen-Betriebsgesellschaft das Wort zu der geschmacklosen Bildung Mitropa zusammengeschmolzen. Aber was Mitteleuropa bedeutet und unter ge¬ wissen Voraussetzungen bedeuten könnte für jeden einzelnen von uns, für jeden Volksstamm, der zwischen Nordsee und Bosporus um sein Dasein ringt, für die einzelnen Gewerbe ebenso wie für die Staaten und nationalen Kulturen, davon haben sich, wie schon gesagt, bisher nur ganz vereinzelte Persönlichkeiten eine feste Vorstellung gemacht. Selbst die Schriftleitung des Fachblattes „Mittel¬ europa" kann unmöglich dem Kern der Sache nähergekommen sein, — andernfalls würde sie nicht unter der schönen Flagge fast ausschließlich Besprechungen, Nach¬ richten und anderes über die polnischen Dinge bringen. Die Polenfrage ist doch noch nur ein Teil des mitteleuropäischen Problems und zwar ein Teil zweiter, wenn nicht dritter Ordnung, wenn auch gewisse Kreise sie geflissentlich in den Vordergrund drängen. Über Mitteleuropa geographisch braucht nicht gehandelt zu werden; der geographische Begriff ist in unserem Zusammenhange unerheblich, da er sich mit den Wirtschafts und staatspolitischen Begriffen durchaus nicht zu decken braucht. Unser politisches Ziel unter der Flagge Mitteleuropa wäre z. V. schon lebensfähig gemacht, Grenzboten I 1918 ?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/45>, abgerufen am 05.05.2024.