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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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partikularismns und Preußentum

nicht denkbar. Wer geschichtliche Kräfte zu würdigen weiß, sollte sich darum
hüten, die geistigen Schichten des heutigen Deutschlands zu verketzern und zu
verfolgen, sondern sollte sich bemühen, sie beim Neubau des deutschen Staates
nutzbar zu machen. Denn sie hegen das kostbare Erbe der Vergangenheit, das
eine unentbehrliche Voraussetzung der Gesundung unseres Volkes ist: den
Gedanken der selbstlosen Hingabe an die Gemeinschaft, des Dienstes um der
Sache, nicht um des persönlichen Vorteils willen.




Partikularismus und preußentum
Professor Ol-. Wilhelm Martin Becker von

W
WD
AMle Lösungen politischer Probleme sind nie reine Lösungen. Die
Forderungen vorgefaßter Programme scheitern an den Tatsachen.
Keine Partei ist imstande, alle ihre Forderungen rein zu verwirk¬
lichen, und je fanatischer sie vertreten werden, desto mehr ist man zu
dem Schluß genötigt, daß die Führer der Partei nicht zu staats¬
männischer Leistung befähigt sind. Auch die Lösungen des deutschen Problems von
Partikularismus und Gesamtstaat sind von je angefochten worden. Und seitdem es
in diesen Tagen wieder in neuen Formen und mit neuen extremen Forderungen an
das deutsche Volk herantritt, wird wohl aus der Abschätzung der beiderseitigen Kräfte
wieder ein Kompromiß zu erwarten sein, in dessen Schaffung sich die von beiden
Seiten her eingesetzten Kräfte aufbrauchen, das aber den Parteien nicht Genüge tut.

Im Kriege schien der Partikularismus verschwunden zu sein. Es galt die
Rettung des Gemeinsamen, das alles Partikulare umschloß.

Heute steht es anders. Weiten Kreisen scheint heute die Bedrohung nicht nur
von außen, sondern auch von innen zu kommen. Die Vereinheitlichungsbestrebungen
des neuen Regimes bedrohen den Rest des gewohnten Sondertums der Landschaften,
und selbst im Elend des verlorenen Krieges bringt der Deutsche zur Verteidigung
dieser letzten individualistischen Hochburg noch Kräfte auf, die von den neuen
Männern der Regierung nicht geahnt wurden. Wir dürfen also objektiv feststellen,
daß wir es hier mit einer vorläufig unausrottbaren Macht zu tun haben; ein Staats¬
mann würde dem Rechnung tragen. Bismarck hat das getan, entsprechend der zu
seiner Zeit mit noch stärkeren Kräften in die Rechnung einzusetzenden Sonderung.
Er hat das Maß gefunden, das dem damaligen Zustande entsprach. Heute gilt es
"in anderes Maß zu finden. Der Partikularismus ist schwächer geworden, aber er
darf nicht vernachlässigt werden bei der Aufstellung der Formel für die staatliche
Fügung im neuen Deutschland.

Überhaupt sehen wir den Partikularismus heute in anderer Verteidigungs¬
stellung als früher. Der Kampf gegen den Unitarismus in den sechziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts war gleichzeitig ein Kampf gegen das Preußentum. AuH
dieser Begriff hatte damals bereits seinen Inhalt gewechselt. Erst seitdem das dem


partikularismns und Preußentum

nicht denkbar. Wer geschichtliche Kräfte zu würdigen weiß, sollte sich darum
hüten, die geistigen Schichten des heutigen Deutschlands zu verketzern und zu
verfolgen, sondern sollte sich bemühen, sie beim Neubau des deutschen Staates
nutzbar zu machen. Denn sie hegen das kostbare Erbe der Vergangenheit, das
eine unentbehrliche Voraussetzung der Gesundung unseres Volkes ist: den
Gedanken der selbstlosen Hingabe an die Gemeinschaft, des Dienstes um der
Sache, nicht um des persönlichen Vorteils willen.




Partikularismus und preußentum
Professor Ol-. Wilhelm Martin Becker von

W
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AMle Lösungen politischer Probleme sind nie reine Lösungen. Die
Forderungen vorgefaßter Programme scheitern an den Tatsachen.
Keine Partei ist imstande, alle ihre Forderungen rein zu verwirk¬
lichen, und je fanatischer sie vertreten werden, desto mehr ist man zu
dem Schluß genötigt, daß die Führer der Partei nicht zu staats¬
männischer Leistung befähigt sind. Auch die Lösungen des deutschen Problems von
Partikularismus und Gesamtstaat sind von je angefochten worden. Und seitdem es
in diesen Tagen wieder in neuen Formen und mit neuen extremen Forderungen an
das deutsche Volk herantritt, wird wohl aus der Abschätzung der beiderseitigen Kräfte
wieder ein Kompromiß zu erwarten sein, in dessen Schaffung sich die von beiden
Seiten her eingesetzten Kräfte aufbrauchen, das aber den Parteien nicht Genüge tut.

Im Kriege schien der Partikularismus verschwunden zu sein. Es galt die
Rettung des Gemeinsamen, das alles Partikulare umschloß.

Heute steht es anders. Weiten Kreisen scheint heute die Bedrohung nicht nur
von außen, sondern auch von innen zu kommen. Die Vereinheitlichungsbestrebungen
des neuen Regimes bedrohen den Rest des gewohnten Sondertums der Landschaften,
und selbst im Elend des verlorenen Krieges bringt der Deutsche zur Verteidigung
dieser letzten individualistischen Hochburg noch Kräfte auf, die von den neuen
Männern der Regierung nicht geahnt wurden. Wir dürfen also objektiv feststellen,
daß wir es hier mit einer vorläufig unausrottbaren Macht zu tun haben; ein Staats¬
mann würde dem Rechnung tragen. Bismarck hat das getan, entsprechend der zu
seiner Zeit mit noch stärkeren Kräften in die Rechnung einzusetzenden Sonderung.
Er hat das Maß gefunden, das dem damaligen Zustande entsprach. Heute gilt es
«in anderes Maß zu finden. Der Partikularismus ist schwächer geworden, aber er
darf nicht vernachlässigt werden bei der Aufstellung der Formel für die staatliche
Fügung im neuen Deutschland.

Überhaupt sehen wir den Partikularismus heute in anderer Verteidigungs¬
stellung als früher. Der Kampf gegen den Unitarismus in den sechziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts war gleichzeitig ein Kampf gegen das Preußentum. AuH
dieser Begriff hatte damals bereits seinen Inhalt gewechselt. Erst seitdem das dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/12>, abgerufen am 01.05.2024.