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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Alterationen des Gemeingefühls.
nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der
Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym-
ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird.

§. 43.

Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls
schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen-
den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung,
welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden
(§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die
Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für
Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon),
bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem-
den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald
soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But-
ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere
des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein
leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m.

Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf
einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken,
als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or-
ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen
Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas
wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich
gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen
der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein.

Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken
jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin-
dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden
aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet.

Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge-
meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich
hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit
nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale
aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll-
ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel-
empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle
zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun
die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch-
tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur-

Griesinger, psych. Krankhtn. 5

Alterationen des Gemeingefühls.
nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der
Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym-
ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird.

§. 43.

Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls
schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen-
den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung,
welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden
(§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die
Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für
Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon),
bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem-
den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald
soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But-
ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere
des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein
leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m.

Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf
einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken,
als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or-
ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen
Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas
wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich
gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen
der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein.

Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken
jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin-
dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden
aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet.

Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge-
meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich
hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit
nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale
aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll-
ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel-
empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle
zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun
die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch-
tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur-

Griesinger, psych. Krankhtn. 5
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[65/0079] Alterationen des Gemeingefühls. nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym- ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird. §. 43. Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen- den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung, welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden (§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon), bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem- den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But- ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m. Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken, als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or- ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein. Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin- dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet. Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge- meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll- ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel- empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch- tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur- Griesinger, psych. Krankhtn. 5

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/79>, abgerufen am 26.04.2024.