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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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hierin nicht einstimmen, werden immer die Psychologie
als das Land der Wunder betrachten, und zufrieden
seyn, wenn der Vortrag dieser Wissenschaft lautet wie
ein artiges Mährchen, worin die Seelenvermögen die
Rollen der Dämonen und der Feen spielen.

Doch für diejenigen, die in solchen Fällen sich ganz
kurz mit der Weisheit und Güte Gottes helfen, habe ich
noch eine Frage. Indem ich mich ausdrücklich mit ihnen
vereinige in der Annahme, dass diese Weisheit unsern
organischen Leib zweckmässig zum Leben gebildet hat;
indem ich dieser Weisheit den Gehorsam des Nerven-
systems gegen die Seele im gesunden Zustande, verdanke,
(nach §. 157. und 158.), frage ich, nicht eines religiösen
Zweifels wegen, sondern aus Liebe zur wahren Psycho-
logie: warum denn hat Gottes Heiligkeit nicht eine solche
Gesammteinrichtung des Organismus getroffen, dass, wenn
einmal die Richtigkeit des Denkens, dann auch die
Sittlichkeit der Gesinnungen, die Rechtlichkeit der
Handlungen, hieraus hervorgehe? Warum ist nicht der
Gegensatz der Narrheit und des gesunden Verstandes
zugleich der zwischen Bosheit und Güte? -- Für auf-
merksame, und mit mir einige, Leser dieses Buchs, giebt
es keine solche Frage.

§. 167.

Minder auffallend für den Psychologen, und zum
Theil minder traurig, ist das Schauspiel des Blödsinns,
als jene der Tobsucht und Narrheit. Der psychologische
Mechanismus ist beym Blödsinnigen noch zu erkennen,
aber er ist verkrüppelt. Was im Laufe der Zeit aus
dem Menschen werden sollte, das ist nicht geworden,
er ist ein Kind geblieben, -- oder, beym später einge-
tretenen Blödsinn, in die Kindheit zurückgeworfen. Diese
Ansicht des Blödsinns, als einer ausgebliebenen oder
verschwundenen Bildung ergiebt sogleich, was die Er-
fahrung bestätigt, dass diese Art von Geisteszerrüttung
mehr als die andere, der verschiedensten Grade fähig ist,
und dass auch ihre Unterschiede fast nur Grössen-Unter-

hierin nicht einstimmen, werden immer die Psychologie
als das Land der Wunder betrachten, und zufrieden
seyn, wenn der Vortrag dieser Wissenschaft lautet wie
ein artiges Mährchen, worin die Seelenvermögen die
Rollen der Dämonen und der Feen spielen.

Doch für diejenigen, die in solchen Fällen sich ganz
kurz mit der Weisheit und Güte Gottes helfen, habe ich
noch eine Frage. Indem ich mich ausdrücklich mit ihnen
vereinige in der Annahme, daſs diese Weisheit unsern
organischen Leib zweckmäſsig zum Leben gebildet hat;
indem ich dieser Weisheit den Gehorsam des Nerven-
systems gegen die Seele im gesunden Zustande, verdanke,
(nach §. 157. und 158.), frage ich, nicht eines religiösen
Zweifels wegen, sondern aus Liebe zur wahren Psycho-
logie: warum denn hat Gottes Heiligkeit nicht eine solche
Gesammteinrichtung des Organismus getroffen, daſs, wenn
einmal die Richtigkeit des Denkens, dann auch die
Sittlichkeit der Gesinnungen, die Rechtlichkeit der
Handlungen, hieraus hervorgehe? Warum ist nicht der
Gegensatz der Narrheit und des gesunden Verstandes
zugleich der zwischen Bosheit und Güte? — Für auf-
merksame, und mit mir einige, Leser dieses Buchs, giebt
es keine solche Frage.

§. 167.

Minder auffallend für den Psychologen, und zum
Theil minder traurig, ist das Schauspiel des Blödsinns,
als jene der Tobsucht und Narrheit. Der psychologische
Mechanismus ist beym Blödsinnigen noch zu erkennen,
aber er ist verkrüppelt. Was im Laufe der Zeit aus
dem Menschen werden sollte, das ist nicht geworden,
er ist ein Kind geblieben, — oder, beym später einge-
tretenen Blödsinn, in die Kindheit zurückgeworfen. Diese
Ansicht des Blödsinns, als einer ausgebliebenen oder
verschwundenen Bildung ergiebt sogleich, was die Er-
fahrung bestätigt, daſs diese Art von Geisteszerrüttung
mehr als die andere, der verschiedensten Grade fähig ist,
und daſs auch ihre Unterschiede fast nur Gröſsen-Unter-

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[519/0554] hierin nicht einstimmen, werden immer die Psychologie als das Land der Wunder betrachten, und zufrieden seyn, wenn der Vortrag dieser Wissenschaft lautet wie ein artiges Mährchen, worin die Seelenvermögen die Rollen der Dämonen und der Feen spielen. Doch für diejenigen, die in solchen Fällen sich ganz kurz mit der Weisheit und Güte Gottes helfen, habe ich noch eine Frage. Indem ich mich ausdrücklich mit ihnen vereinige in der Annahme, daſs diese Weisheit unsern organischen Leib zweckmäſsig zum Leben gebildet hat; indem ich dieser Weisheit den Gehorsam des Nerven- systems gegen die Seele im gesunden Zustande, verdanke, (nach §. 157. und 158.), frage ich, nicht eines religiösen Zweifels wegen, sondern aus Liebe zur wahren Psycho- logie: warum denn hat Gottes Heiligkeit nicht eine solche Gesammteinrichtung des Organismus getroffen, daſs, wenn einmal die Richtigkeit des Denkens, dann auch die Sittlichkeit der Gesinnungen, die Rechtlichkeit der Handlungen, hieraus hervorgehe? Warum ist nicht der Gegensatz der Narrheit und des gesunden Verstandes zugleich der zwischen Bosheit und Güte? — Für auf- merksame, und mit mir einige, Leser dieses Buchs, giebt es keine solche Frage. §. 167. Minder auffallend für den Psychologen, und zum Theil minder traurig, ist das Schauspiel des Blödsinns, als jene der Tobsucht und Narrheit. Der psychologische Mechanismus ist beym Blödsinnigen noch zu erkennen, aber er ist verkrüppelt. Was im Laufe der Zeit aus dem Menschen werden sollte, das ist nicht geworden, er ist ein Kind geblieben, — oder, beym später einge- tretenen Blödsinn, in die Kindheit zurückgeworfen. Diese Ansicht des Blödsinns, als einer ausgebliebenen oder verschwundenen Bildung ergiebt sogleich, was die Er- fahrung bestätigt, daſs diese Art von Geisteszerrüttung mehr als die andere, der verschiedensten Grade fähig ist, und daſs auch ihre Unterschiede fast nur Gröſsen-Unter-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/554>, abgerufen am 19.03.2024.