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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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zeigt jeder auf sich! "Wir sind die Aerzte, die
"Heilande, die Aufklärer, die neuen Schöp-
"fer -- die Zeiten des tollen Fiebers sind vor-
"bey" -- Nun ja Gottlob! und der schwind-
süchtige Kranke liegt da so ruhig im Bette,
wimmert und -- -- danket! dankt; aber ob
er auch danke? Und wenn ers thäte; eben die-
ser Dank könnte er nicht als Kennzeichen sei-
ner Verfallenheit, Kleinmuth, und der za-
gendsten Menschheit
eben gelten? Wie wann
so gar Empfindung eines andern bessern mit
dem Genuße entflohen wäre? daß ich mich selbst,
da ich dies schreibe, vielleicht den giftigsten,
hönischsten Seitabverzerrungen
aussetze?
Wenns eben schon gnug wäre, daß wir den-
ken,
haben Manufakturen, Handel, Künste,
Ruhe, Sicherheit
und Ordnung -- Unsre
Regierungen mit nichts mehr in sich zu kämp-
fen: unsre Staatsverfassungen werden groß!
-- so weiten Blick umher! -- so weit um-
her, so ferne voraus spielend -- Welche Zeit
konnte das? -- Also! so sprechen unsre Staats-
Handels- und Kunstgeschichte. -- Man glaubt
Satyre zu lesen, und man liest nichts, als
treue Denkart. Was lohnts, daß ich weiter
rede? Wenns blos Sieche wäre; und nicht
zugleich Hinderniß, das jedes Mittel dagegen

auf-



zeigt jeder auf ſich! „Wir ſind die Aerzte, die
Heilande, die Aufklaͤrer, die neuen Schoͤp-
fer — die Zeiten des tollen Fiebers ſind vor-
„bey„ — Nun ja Gottlob! und der ſchwind-
ſuͤchtige Kranke liegt da ſo ruhig im Bette,
wimmert und — — danket! dankt; aber ob
er auch danke? Und wenn ers thaͤte; eben die-
ſer Dank koͤnnte er nicht als Kennzeichen ſei-
ner Verfallenheit, Kleinmuth, und der za-
gendſten Menſchheit
eben gelten? Wie wann
ſo gar Empfindung eines andern beſſern mit
dem Genuße entflohen waͤre? daß ich mich ſelbſt,
da ich dies ſchreibe, vielleicht den giftigſten,
hoͤniſchſten Seitabverzerrungen
ausſetze?
Wenns eben ſchon gnug waͤre, daß wir den-
ken,
haben Manufakturen, Handel, Kuͤnſte,
Ruhe, Sicherheit
und Ordnung — Unſre
Regierungen mit nichts mehr in ſich zu kaͤmp-
fen: unſre Staatsverfaſſungen werden groß!
— ſo weiten Blick umher! — ſo weit um-
her, ſo ferne voraus ſpielend — Welche Zeit
konnte das? — Alſo! ſo ſprechen unſre Staats-
Handels- und Kunſtgeſchichte. — Man glaubt
Satyre zu leſen, und man lieſt nichts, als
treue Denkart. Was lohnts, daß ich weiter
rede? Wenns blos Sieche waͤre; und nicht
zugleich Hinderniß, das jedes Mittel dagegen

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[138/0142] zeigt jeder auf ſich! „Wir ſind die Aerzte, die „Heilande, die Aufklaͤrer, die neuen Schoͤp- „fer — die Zeiten des tollen Fiebers ſind vor- „bey„ — Nun ja Gottlob! und der ſchwind- ſuͤchtige Kranke liegt da ſo ruhig im Bette, wimmert und — — danket! dankt; aber ob er auch danke? Und wenn ers thaͤte; eben die- ſer Dank koͤnnte er nicht als Kennzeichen ſei- ner Verfallenheit, Kleinmuth, und der za- gendſten Menſchheit eben gelten? Wie wann ſo gar Empfindung eines andern beſſern mit dem Genuße entflohen waͤre? daß ich mich ſelbſt, da ich dies ſchreibe, vielleicht den giftigſten, hoͤniſchſten Seitabverzerrungen ausſetze? Wenns eben ſchon gnug waͤre, daß wir den- ken, haben Manufakturen, Handel, Kuͤnſte, Ruhe, Sicherheit und Ordnung — Unſre Regierungen mit nichts mehr in ſich zu kaͤmp- fen: unſre Staatsverfaſſungen werden groß! — ſo weiten Blick umher! — ſo weit um- her, ſo ferne voraus ſpielend — Welche Zeit konnte das? — Alſo! ſo ſprechen unſre Staats- Handels- und Kunſtgeſchichte. — Man glaubt Satyre zu leſen, und man lieſt nichts, als treue Denkart. Was lohnts, daß ich weiter rede? Wenns blos Sieche waͤre; und nicht zugleich Hinderniß, das jedes Mittel dagegen auf-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/142>, abgerufen am 26.04.2024.