Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

gereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und
Realität, ist lächerlich. Aber lachen und ver-
lachen ist sehr weit auseinander. Wir können
über einen Menschen lachen, bey Gelegenheit
seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verla-
chen. So unstreitig, so bekannt dieser Unter-
schied ist, so sind doch alle Chicanen, welche
noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der
Komödie gemacht hat, nur daher entstanden,
weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen.
Moliere, sagt er z. E., macht uns über den
Misanthropen zu lachen, und doch ist der Mi-
santhrop der ehrliche Mann des Stücks; Mo-
liere beweiset sich also als einen Feind der Tu-
gend, indem er den Tugendhaften verächtlich
macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht
verächtlich, er bleibt wer er ist, und das Lachen,
welches aus den Situationen entspringt, in die
ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer
Hochachtung nicht das geringste. Der Zer-
streute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber
verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine
übrige guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen
sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über
seine Zerstreuung lachen können. Man gebe
diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswür-
digen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich
seyn wird? Widrig, eckel, häßlich wird sie seyn;
nicht lächerlich.

Ham-

gereimtheit, jeder Kontraſt von Mangel und
Realitaͤt, iſt laͤcherlich. Aber lachen und ver-
lachen iſt ſehr weit auseinander. Wir koͤnnen
uͤber einen Menſchen lachen, bey Gelegenheit
ſeiner lachen, ohne ihn im geringſten zu verla-
chen. So unſtreitig, ſo bekannt dieſer Unter-
ſchied iſt, ſo ſind doch alle Chicanen, welche
noch neuerlich Rouſſeau gegen den Nutzen der
Komoͤdie gemacht hat, nur daher entſtanden,
weil er ihn nicht gehoͤrig in Erwaͤgung gezogen.
Moliere, ſagt er z. E., macht uns uͤber den
Miſanthropen zu lachen, und doch iſt der Mi-
ſanthrop der ehrliche Mann des Stuͤcks; Mo-
liere beweiſet ſich alſo als einen Feind der Tu-
gend, indem er den Tugendhaften veraͤchtlich
macht. Nicht doch; der Miſanthrop wird nicht
veraͤchtlich, er bleibt wer er iſt, und das Lachen,
welches aus den Situationen entſpringt, in die
ihn der Dichter ſetzt, benimmt ihm von unſerer
Hochachtung nicht das geringſte. Der Zer-
ſtreute gleichfalls; wir lachen uͤber ihn, aber
verachten wir ihn darum? Wir ſchaͤtzen ſeine
uͤbrige guten Eigenſchaften, wie wir ſie ſchaͤtzen
ſollen; ja ohne ſie wuͤrden wir nicht einmal uͤber
ſeine Zerſtreuung lachen koͤnnen. Man gebe
dieſe Zerſtreuung einem boshaften, nichtswuͤr-
digen Manne, und ſehe, ob ſie noch laͤcherlich
ſeyn wird? Widrig, eckel, haͤßlich wird ſie ſeyn;
nicht laͤcherlich.

Ham-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0238" n="224"/>
gereimtheit, jeder Kontra&#x017F;t von Mangel und<lb/>
Realita&#x0364;t, i&#x017F;t la&#x0364;cherlich. Aber lachen und ver-<lb/>
lachen i&#x017F;t &#x017F;ehr weit auseinander. Wir ko&#x0364;nnen<lb/>
u&#x0364;ber einen Men&#x017F;chen lachen, bey Gelegenheit<lb/>
&#x017F;einer lachen, ohne ihn im gering&#x017F;ten zu verla-<lb/>
chen. So un&#x017F;treitig, &#x017F;o bekannt die&#x017F;er Unter-<lb/>
&#x017F;chied i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;ind doch alle Chicanen, welche<lb/>
noch neuerlich Rou&#x017F;&#x017F;eau gegen den Nutzen der<lb/>
Komo&#x0364;die gemacht hat, nur daher ent&#x017F;tanden,<lb/>
weil er ihn nicht geho&#x0364;rig in Erwa&#x0364;gung gezogen.<lb/>
Moliere, &#x017F;agt er z. E., macht uns u&#x0364;ber den<lb/>
Mi&#x017F;anthropen zu lachen, und doch i&#x017F;t der Mi-<lb/>
&#x017F;anthrop der ehrliche Mann des Stu&#x0364;cks; Mo-<lb/>
liere bewei&#x017F;et &#x017F;ich al&#x017F;o als einen Feind der Tu-<lb/>
gend, indem er den Tugendhaften vera&#x0364;chtlich<lb/>
macht. Nicht doch; der Mi&#x017F;anthrop wird nicht<lb/>
vera&#x0364;chtlich, er bleibt wer er i&#x017F;t, und das Lachen,<lb/>
welches aus den Situationen ent&#x017F;pringt, in die<lb/>
ihn der Dichter &#x017F;etzt, benimmt ihm von un&#x017F;erer<lb/>
Hochachtung nicht das gering&#x017F;te. Der Zer-<lb/>
&#x017F;treute gleichfalls; wir lachen u&#x0364;ber ihn, aber<lb/>
verachten wir ihn darum? Wir &#x017F;cha&#x0364;tzen &#x017F;eine<lb/>
u&#x0364;brige guten Eigen&#x017F;chaften, wie wir &#x017F;ie &#x017F;cha&#x0364;tzen<lb/>
&#x017F;ollen; ja ohne &#x017F;ie wu&#x0364;rden wir nicht einmal u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;eine Zer&#x017F;treuung lachen ko&#x0364;nnen. Man gebe<lb/>
die&#x017F;e Zer&#x017F;treuung einem boshaften, nichtswu&#x0364;r-<lb/>
digen Manne, und &#x017F;ehe, ob &#x017F;ie noch la&#x0364;cherlich<lb/>
&#x017F;eyn wird? Widrig, eckel, ha&#x0364;ßlich wird &#x017F;ie &#x017F;eyn;<lb/>
nicht la&#x0364;cherlich.</p>
      </div><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Ham-</hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0238] gereimtheit, jeder Kontraſt von Mangel und Realitaͤt, iſt laͤcherlich. Aber lachen und ver- lachen iſt ſehr weit auseinander. Wir koͤnnen uͤber einen Menſchen lachen, bey Gelegenheit ſeiner lachen, ohne ihn im geringſten zu verla- chen. So unſtreitig, ſo bekannt dieſer Unter- ſchied iſt, ſo ſind doch alle Chicanen, welche noch neuerlich Rouſſeau gegen den Nutzen der Komoͤdie gemacht hat, nur daher entſtanden, weil er ihn nicht gehoͤrig in Erwaͤgung gezogen. Moliere, ſagt er z. E., macht uns uͤber den Miſanthropen zu lachen, und doch iſt der Mi- ſanthrop der ehrliche Mann des Stuͤcks; Mo- liere beweiſet ſich alſo als einen Feind der Tu- gend, indem er den Tugendhaften veraͤchtlich macht. Nicht doch; der Miſanthrop wird nicht veraͤchtlich, er bleibt wer er iſt, und das Lachen, welches aus den Situationen entſpringt, in die ihn der Dichter ſetzt, benimmt ihm von unſerer Hochachtung nicht das geringſte. Der Zer- ſtreute gleichfalls; wir lachen uͤber ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir ſchaͤtzen ſeine uͤbrige guten Eigenſchaften, wie wir ſie ſchaͤtzen ſollen; ja ohne ſie wuͤrden wir nicht einmal uͤber ſeine Zerſtreuung lachen koͤnnen. Man gebe dieſe Zerſtreuung einem boshaften, nichtswuͤr- digen Manne, und ſehe, ob ſie noch laͤcherlich ſeyn wird? Widrig, eckel, haͤßlich wird ſie ſeyn; nicht laͤcherlich. Ham-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/238
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/238>, abgerufen am 27.04.2024.