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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Gleich den vom Vater der Götter gesandten
Tauben, die vor der gefahrvollen Scylla vorbei-
fliegend, beständig eine aus ihrer Mitte verlieren,
die vom Jupiter sogleich ersetzt wird, damit die
Zahl voll bleibe;
macht auch ein Menschenge-
schlecht unmerklich dem andern Platz, und wer
von Alter und Schwachheit übermannt, entschlum-
mert, den hat in der Dichtersprache Diana oder
Apollo mit sanftem Pfeil getödtet.

Daß dieß die Vorstellungsart der Alten war,
erhellet aus ihrer Sprache. -- Das kleine glück-
liche Eiland, wo ich gebohren bin, erzählt der
Hirt Eumäus dem Ulysses, liegt unter einem ge-
sunden wohlthätigen Himmelsstrich; keine ver-
haßte Krankheit
raft da die Menschen hin; son-
dern wenn nun das Alter da ist, so kommen Diana
und Apoll mit ihrem silbernen Bogen, und tödten
die Menschen mit ihrem sanften Pfeil. --

Wenn Ulysses in der Unterwelt den Schatten
seiner Mutter frägt, wie sie gestorben sey; so giebt
sie ihm zur Antwort: mich hat nicht Dianens
sanfter Pfeil getödtet, auch hat mich keine
Krankheit
dahin geraft; sondern mein Verlan-
gen nach dir, und mein Kummer um dich, mein
Sohn, haben mich des süssen Lebens beraubt.

Wenn aber der Gott mit dem silbernen Bo-
gen auf das Heer der Griechen zürnend, eine Pest

Gleich den vom Vater der Goͤtter geſandten
Tauben, die vor der gefahrvollen Scylla vorbei-
fliegend, beſtaͤndig eine aus ihrer Mitte verlieren,
die vom Jupiter ſogleich erſetzt wird, damit die
Zahl voll bleibe;
macht auch ein Menſchenge-
ſchlecht unmerklich dem andern Platz, und wer
von Alter und Schwachheit uͤbermannt, entſchlum-
mert, den hat in der Dichterſprache Diana oder
Apollo mit ſanftem Pfeil getoͤdtet.

Daß dieß die Vorſtellungsart der Alten war,
erhellet aus ihrer Sprache. — Das kleine gluͤck-
liche Eiland, wo ich gebohren bin, erzaͤhlt der
Hirt Eumaͤus dem Ulyſſes, liegt unter einem ge-
ſunden wohlthaͤtigen Himmelsſtrich; keine ver-
haßte Krankheit
raft da die Menſchen hin; ſon-
dern wenn nun das Alter da iſt, ſo kommen Diana
und Apoll mit ihrem ſilbernen Bogen, und toͤdten
die Menſchen mit ihrem ſanften Pfeil.

Wenn Ulyſſes in der Unterwelt den Schatten
ſeiner Mutter fraͤgt, wie ſie geſtorben ſey; ſo giebt
ſie ihm zur Antwort: mich hat nicht Dianens
ſanfter Pfeil getoͤdtet, auch hat mich keine
Krankheit
dahin geraft; ſondern mein Verlan-
gen nach dir, und mein Kummer um dich, mein
Sohn, haben mich des ſuͤſſen Lebens beraubt.

Wenn aber der Gott mit dem ſilbernen Bo-
gen auf das Heer der Griechen zuͤrnend, eine Peſt

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[111/0141] Gleich den vom Vater der Goͤtter geſandten Tauben, die vor der gefahrvollen Scylla vorbei- fliegend, beſtaͤndig eine aus ihrer Mitte verlieren, die vom Jupiter ſogleich erſetzt wird, damit die Zahl voll bleibe; macht auch ein Menſchenge- ſchlecht unmerklich dem andern Platz, und wer von Alter und Schwachheit uͤbermannt, entſchlum- mert, den hat in der Dichterſprache Diana oder Apollo mit ſanftem Pfeil getoͤdtet. Daß dieß die Vorſtellungsart der Alten war, erhellet aus ihrer Sprache. — Das kleine gluͤck- liche Eiland, wo ich gebohren bin, erzaͤhlt der Hirt Eumaͤus dem Ulyſſes, liegt unter einem ge- ſunden wohlthaͤtigen Himmelsſtrich; keine ver- haßte Krankheit raft da die Menſchen hin; ſon- dern wenn nun das Alter da iſt, ſo kommen Diana und Apoll mit ihrem ſilbernen Bogen, und toͤdten die Menſchen mit ihrem ſanften Pfeil. — Wenn Ulyſſes in der Unterwelt den Schatten ſeiner Mutter fraͤgt, wie ſie geſtorben ſey; ſo giebt ſie ihm zur Antwort: mich hat nicht Dianens ſanfter Pfeil getoͤdtet, auch hat mich keine Krankheit dahin geraft; ſondern mein Verlan- gen nach dir, und mein Kummer um dich, mein Sohn, haben mich des ſuͤſſen Lebens beraubt. Wenn aber der Gott mit dem ſilbernen Bo- gen auf das Heer der Griechen zuͤrnend, eine Peſt

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/141>, abgerufen am 26.04.2024.