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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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ein Wesentliches in anderen Beziehungen darstellend, als künst-
lerische Phantasie, als anschauender Sinn des Naturfor-
schers.

181.

Der speculative Geist erkennt das Gesetz des Bildens
und Verwandels der Formen; die Phantasie, durch die
Idee bestimmt, ist nach denselben Gesetzen wie die Natur
thätig, ihre Lebensgesetz ist das der Metamorphose selbst.
Es ist die Phantasie, welche das Lebensgesetz der Pflan-
zenmetamorphose, in der Natur verwirklicht, zum zweiten-
mal in der Natur leibhaft sieht. Die Phantasie sieht in
ihrem plastischen Leben das einfache Verhältniß des Stiels
zum Blatte zu allen successiv entwickelten Theilen der
Pflanze sich verwandeln, sie sieht in der lebendigen Pflanze
ein durch Keimen und Wachsthum entwickeltes Vielfaches,
an welchem ein identischer Theil aus identischen Theilen
entspringt, die wesentlich gleichen Theile durch Succession
verschieden ausgebildet werden, so daß ein mannigfaltiges
scheinbar verbundenes Ganze identischer Glieder vor un-
sern Augen steht.

182.

Die Raupe erscheint uns als ein gegliederter Wurm,
der aus Theilen und Ringen besteht, die sich fast überall
gleich sind. Die Metamorphose bildet hier das Gleiche zu
scheinbar Differentem von innen ans, wenn bei der Pflanze
die gleichen Theile, zu scheinbar differenten ausgebildet, nach-
einander und auseinander hervorsprossen. Die gleichen
Theile des Insectes schnüren sich ein, erweitern, entwickeln
sich hier und dort, und zuletzt steht ein gesondertes Ge-
schöpf vor uns, in dem nur die durch die erkannte Idee
der lebendigen Verwandlung angeregte und selbst auch nach
dieser Idee plastisch wirkende Phantasie den Fortschritt
des Identicischen zu erkennen vermag.


ein Weſentliches in anderen Beziehungen darſtellend, als kuͤnſt-
leriſche Phantaſie, als anſchauender Sinn des Naturfor-
ſchers.

181.

Der ſpeculative Geiſt erkennt das Geſetz des Bildens
und Verwandels der Formen; die Phantaſie, durch die
Idee beſtimmt, iſt nach denſelben Geſetzen wie die Natur
thaͤtig, ihre Lebensgeſetz iſt das der Metamorphoſe ſelbſt.
Es iſt die Phantaſie, welche das Lebensgeſetz der Pflan-
zenmetamorphoſe, in der Natur verwirklicht, zum zweiten-
mal in der Natur leibhaft ſieht. Die Phantaſie ſieht in
ihrem plaſtiſchen Leben das einfache Verhaͤltniß des Stiels
zum Blatte zu allen ſucceſſiv entwickelten Theilen der
Pflanze ſich verwandeln, ſie ſieht in der lebendigen Pflanze
ein durch Keimen und Wachsthum entwickeltes Vielfaches,
an welchem ein identiſcher Theil aus identiſchen Theilen
entſpringt, die weſentlich gleichen Theile durch Succeſſion
verſchieden ausgebildet werden, ſo daß ein mannigfaltiges
ſcheinbar verbundenes Ganze identiſcher Glieder vor un-
ſern Augen ſteht.

182.

Die Raupe erſcheint uns als ein gegliederter Wurm,
der aus Theilen und Ringen beſteht, die ſich faſt uͤberall
gleich ſind. Die Metamorphoſe bildet hier das Gleiche zu
ſcheinbar Differentem von innen ans, wenn bei der Pflanze
die gleichen Theile, zu ſcheinbar differenten ausgebildet, nach-
einander und auseinander hervorſproſſen. Die gleichen
Theile des Inſectes ſchnuͤren ſich ein, erweitern, entwickeln
ſich hier und dort, und zuletzt ſteht ein geſondertes Ge-
ſchoͤpf vor uns, in dem nur die durch die erkannte Idee
der lebendigen Verwandlung angeregte und ſelbſt auch nach
dieſer Idee plaſtiſch wirkende Phantaſie den Fortſchritt
des Identiciſchen zu erkennen vermag.


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[102/0118] ein Weſentliches in anderen Beziehungen darſtellend, als kuͤnſt- leriſche Phantaſie, als anſchauender Sinn des Naturfor- ſchers. 181. Der ſpeculative Geiſt erkennt das Geſetz des Bildens und Verwandels der Formen; die Phantaſie, durch die Idee beſtimmt, iſt nach denſelben Geſetzen wie die Natur thaͤtig, ihre Lebensgeſetz iſt das der Metamorphoſe ſelbſt. Es iſt die Phantaſie, welche das Lebensgeſetz der Pflan- zenmetamorphoſe, in der Natur verwirklicht, zum zweiten- mal in der Natur leibhaft ſieht. Die Phantaſie ſieht in ihrem plaſtiſchen Leben das einfache Verhaͤltniß des Stiels zum Blatte zu allen ſucceſſiv entwickelten Theilen der Pflanze ſich verwandeln, ſie ſieht in der lebendigen Pflanze ein durch Keimen und Wachsthum entwickeltes Vielfaches, an welchem ein identiſcher Theil aus identiſchen Theilen entſpringt, die weſentlich gleichen Theile durch Succeſſion verſchieden ausgebildet werden, ſo daß ein mannigfaltiges ſcheinbar verbundenes Ganze identiſcher Glieder vor un- ſern Augen ſteht. 182. Die Raupe erſcheint uns als ein gegliederter Wurm, der aus Theilen und Ringen beſteht, die ſich faſt uͤberall gleich ſind. Die Metamorphoſe bildet hier das Gleiche zu ſcheinbar Differentem von innen ans, wenn bei der Pflanze die gleichen Theile, zu ſcheinbar differenten ausgebildet, nach- einander und auseinander hervorſproſſen. Die gleichen Theile des Inſectes ſchnuͤren ſich ein, erweitern, entwickeln ſich hier und dort, und zuletzt ſteht ein geſondertes Ge- ſchoͤpf vor uns, in dem nur die durch die erkannte Idee der lebendigen Verwandlung angeregte und ſelbſt auch nach dieſer Idee plaſtiſch wirkende Phantaſie den Fortſchritt des Identiciſchen zu erkennen vermag.

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/118>, abgerufen am 26.04.2024.