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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Menge einzelner regelmäßiger Figuren, welche selbst schon
für sich ein Ganzes ausmachen, construirt sind, architecto-
nische Rosen, viel verschlungene Verzierungen, so können wir
bald den einen, bald den andern Theil dieser Figuren als ein
Ganzes, einem höheren Ganzen Einverleibtes im Sinne festhal-
ten. Wir erblicken in einer und derselben zusammengesetzten re-
gelmäßigen Figur bald den Stern, bald das Sechseck, bald
die Rose durch alle anderen Formen durchstrebend. Alle diese
einzelnen Figuren nehmen, zu einem architectonischen Ganzen
vereinigt, denselben Raum ein, aber wir halten das einzel-
ne Element desselben einbildend lebhaft im Sinne fest, wo-
bei uns das Uebrige zum gleichgültigen Grunde wird.

83.

Indem wir nun bald das Eine bald das Andere im
Sehfelde lebhafter einbilden, scheint uns das Object selbst
sich zu verändern, es ist, als ob ein Blatt über dem andern
weggezogen würde, oder so wie die Kaleidoscope sich ver-
ändern. Darauf gründet sich zugleich der wunderbare Reiz,
den solche auf einer gewissen Gesetzmäßigkeit beruhende
vielgliederige architectonische Figuren auf den Sinn aus-
üben. Sie haben etwas Bewegliches, Veränderliches, Le-
bendiges, oder vielmehr der Sinn trägt sein eigenes Be-
wegtseyn, sein eigenes Leben aus dem Sehfelde auf sie über.



III. Das plastische Einbilden aus subjecti-
ven inneren Sinneseindrücken productiv
.
84.

Es ist für den Sinn gleich, ob seine Affection von
innen oder außen erregt werde, das Auge sieht in beiden
Fällen Licht und Farben. Wenn uns daher auf der zweiten

Menge einzelner regelmaͤßiger Figuren, welche ſelbſt ſchon
fuͤr ſich ein Ganzes ausmachen, conſtruirt ſind, architecto-
niſche Roſen, viel verſchlungene Verzierungen, ſo koͤnnen wir
bald den einen, bald den andern Theil dieſer Figuren als ein
Ganzes, einem hoͤheren Ganzen Einverleibtes im Sinne feſthal-
ten. Wir erblicken in einer und derſelben zuſammengeſetzten re-
gelmaͤßigen Figur bald den Stern, bald das Sechseck, bald
die Roſe durch alle anderen Formen durchſtrebend. Alle dieſe
einzelnen Figuren nehmen, zu einem architectoniſchen Ganzen
vereinigt, denſelben Raum ein, aber wir halten das einzel-
ne Element deſſelben einbildend lebhaft im Sinne feſt, wo-
bei uns das Uebrige zum gleichguͤltigen Grunde wird.

83.

Indem wir nun bald das Eine bald das Andere im
Sehfelde lebhafter einbilden, ſcheint uns das Object ſelbſt
ſich zu veraͤndern, es iſt, als ob ein Blatt uͤber dem andern
weggezogen wuͤrde, oder ſo wie die Kaleidoscope ſich ver-
aͤndern. Darauf gruͤndet ſich zugleich der wunderbare Reiz,
den ſolche auf einer gewiſſen Geſetzmaͤßigkeit beruhende
vielgliederige architectoniſche Figuren auf den Sinn aus-
uͤben. Sie haben etwas Bewegliches, Veraͤnderliches, Le-
bendiges, oder vielmehr der Sinn traͤgt ſein eigenes Be-
wegtſeyn, ſein eigenes Leben aus dem Sehfelde auf ſie uͤber.



III. Das plaſtiſche Einbilden aus ſubjecti-
ven inneren Sinneseindruͤcken productiv
.
84.

Es iſt fuͤr den Sinn gleich, ob ſeine Affection von
innen oder außen erregt werde, das Auge ſieht in beiden
Faͤllen Licht und Farben. Wenn uns daher auf der zweiten

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[47/0063] Menge einzelner regelmaͤßiger Figuren, welche ſelbſt ſchon fuͤr ſich ein Ganzes ausmachen, conſtruirt ſind, architecto- niſche Roſen, viel verſchlungene Verzierungen, ſo koͤnnen wir bald den einen, bald den andern Theil dieſer Figuren als ein Ganzes, einem hoͤheren Ganzen Einverleibtes im Sinne feſthal- ten. Wir erblicken in einer und derſelben zuſammengeſetzten re- gelmaͤßigen Figur bald den Stern, bald das Sechseck, bald die Roſe durch alle anderen Formen durchſtrebend. Alle dieſe einzelnen Figuren nehmen, zu einem architectoniſchen Ganzen vereinigt, denſelben Raum ein, aber wir halten das einzel- ne Element deſſelben einbildend lebhaft im Sinne feſt, wo- bei uns das Uebrige zum gleichguͤltigen Grunde wird. 83. Indem wir nun bald das Eine bald das Andere im Sehfelde lebhafter einbilden, ſcheint uns das Object ſelbſt ſich zu veraͤndern, es iſt, als ob ein Blatt uͤber dem andern weggezogen wuͤrde, oder ſo wie die Kaleidoscope ſich ver- aͤndern. Darauf gruͤndet ſich zugleich der wunderbare Reiz, den ſolche auf einer gewiſſen Geſetzmaͤßigkeit beruhende vielgliederige architectoniſche Figuren auf den Sinn aus- uͤben. Sie haben etwas Bewegliches, Veraͤnderliches, Le- bendiges, oder vielmehr der Sinn traͤgt ſein eigenes Be- wegtſeyn, ſein eigenes Leben aus dem Sehfelde auf ſie uͤber. III. Das plaſtiſche Einbilden aus ſubjecti- ven inneren Sinneseindruͤcken productiv. 84. Es iſt fuͤr den Sinn gleich, ob ſeine Affection von innen oder außen erregt werde, das Auge ſieht in beiden Faͤllen Licht und Farben. Wenn uns daher auf der zweiten

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/63>, abgerufen am 26.04.2024.