Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

will ich noch eins, das Hoffbauer *) ange-
führt hat, zufügen. Ich kannte, sagt er, einen
Tonkünstler, der seinen Phantasieen am Clavier sich
so zu überlassen pflegte, dass er nichts von allem,
was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein ge-
schätzter Freund konnte in sein Zimmer treten,
und mit offenen auf ihn gerichteten Augen sahe
er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des
Abends spielte, verlöschen, er merkte es nicht.
Einstmals, als er seine Freunde an einem Winter-
abende mit seinem Spiele unterhielt, löschte ei-
ner derselben aus Versehen das Licht aus. Ganz
in seine Phantasie vertieft, weiss er nicht eher,
dass er sich in einem finstern Zimmer befindet,
als bis sein Freund nach einem vergeblichen Ver-
suche das Licht wieder zum Brennen zu bringen,
ihn in seinem Spiele stört.

Die Besonnenheit liegt also in der Mitte
zwischen Zerstreuung und Vertiefung
.
Beide Zustände sind Abweichungen von ihr nach
verschiedenen Richtungen. Je weiter der Mensch
von dem normalen Standpunkt in der Mitte sich
entfernt, desto mehr ist er an dem einem Extrem
vertieft, am andern zerstreut und an beiden En-
den auf dem Wege zur Verrückung. Der Zer-
streute irrt unter einer Menge von Gegenständen
herum, ohne einen festzuhalten; der Vertiefte
kann sich von dem Objekte nicht losreissen, das

*) l. c. 1 Th. 44 S.

will ich noch eins, das Hoffbauer *) ange-
führt hat, zufügen. Ich kannte, ſagt er, einen
Tonkünſtler, der ſeinen Phantaſieen am Clavier ſich
ſo zu überlaſſen pflegte, daſs er nichts von allem,
was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein ge-
ſchätzter Freund konnte in ſein Zimmer treten,
und mit offenen auf ihn gerichteten Augen ſahe
er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des
Abends ſpielte, verlöſchen, er merkte es nicht.
Einſtmals, als er ſeine Freunde an einem Winter-
abende mit ſeinem Spiele unterhielt, löſchte ei-
ner derſelben aus Verſehen das Licht aus. Ganz
in ſeine Phantaſie vertieft, weiſs er nicht eher,
daſs er ſich in einem finſtern Zimmer befindet,
als bis ſein Freund nach einem vergeblichen Ver-
ſuche das Licht wieder zum Brennen zu bringen,
ihn in ſeinem Spiele ſtört.

Die Beſonnenheit liegt alſo in der Mitte
zwiſchen Zerſtreuung und Vertiefung
.
Beide Zuſtände ſind Abweichungen von ihr nach
verſchiedenen Richtungen. Je weiter der Menſch
von dem normalen Standpunkt in der Mitte ſich
entfernt, deſto mehr iſt er an dem einem Extrem
vertieft, am andern zerſtreut und an beiden En-
den auf dem Wege zur Verrückung. Der Zer-
ſtreute irrt unter einer Menge von Gegenſtänden
herum, ohne einen feſtzuhalten; der Vertiefte
kann ſich von dem Objekte nicht losreiſsen, das

*) l. c. 1 Th. 44 S.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0114" n="109"/>
will ich noch eins, das <hi rendition="#g">Hoffbauer</hi> <note place="foot" n="*)">l. c. 1 Th. 44 S.</note> ange-<lb/>
führt hat, zufügen. Ich kannte, &#x017F;agt er, einen<lb/>
Tonkün&#x017F;tler, der &#x017F;einen Phanta&#x017F;ieen am Clavier &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;o zu überla&#x017F;&#x017F;en pflegte, da&#x017F;s er nichts von allem,<lb/>
was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein ge-<lb/>
&#x017F;chätzter Freund konnte in &#x017F;ein Zimmer treten,<lb/>
und mit offenen auf ihn gerichteten Augen &#x017F;ahe<lb/>
er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des<lb/>
Abends &#x017F;pielte, verlö&#x017F;chen, er merkte es nicht.<lb/>
Ein&#x017F;tmals, als er &#x017F;eine Freunde an einem Winter-<lb/>
abende mit &#x017F;einem Spiele unterhielt, lö&#x017F;chte ei-<lb/>
ner der&#x017F;elben aus Ver&#x017F;ehen das Licht aus. Ganz<lb/>
in &#x017F;eine Phanta&#x017F;ie vertieft, wei&#x017F;s er nicht eher,<lb/>
da&#x017F;s er &#x017F;ich in einem fin&#x017F;tern Zimmer befindet,<lb/>
als bis &#x017F;ein Freund nach einem vergeblichen Ver-<lb/>
&#x017F;uche das Licht wieder zum Brennen zu bringen,<lb/>
ihn in &#x017F;einem Spiele &#x017F;tört.</p><lb/>
          <p>Die Be&#x017F;onnenheit liegt al&#x017F;o <hi rendition="#g">in der Mitte<lb/>
zwi&#x017F;chen Zer&#x017F;treuung und Vertiefung</hi>.<lb/>
Beide Zu&#x017F;tände &#x017F;ind Abweichungen von ihr nach<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Richtungen. Je weiter der Men&#x017F;ch<lb/>
von dem normalen Standpunkt in der Mitte &#x017F;ich<lb/>
entfernt, de&#x017F;to mehr i&#x017F;t er an dem einem Extrem<lb/>
vertieft, am andern zer&#x017F;treut und an beiden En-<lb/>
den auf dem Wege zur Verrückung. Der Zer-<lb/>
&#x017F;treute irrt unter einer Menge von Gegen&#x017F;tänden<lb/>
herum, ohne einen fe&#x017F;tzuhalten; der Vertiefte<lb/>
kann &#x017F;ich von dem Objekte nicht losrei&#x017F;sen, das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0114] will ich noch eins, das Hoffbauer *) ange- führt hat, zufügen. Ich kannte, ſagt er, einen Tonkünſtler, der ſeinen Phantaſieen am Clavier ſich ſo zu überlaſſen pflegte, daſs er nichts von allem, was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein ge- ſchätzter Freund konnte in ſein Zimmer treten, und mit offenen auf ihn gerichteten Augen ſahe er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des Abends ſpielte, verlöſchen, er merkte es nicht. Einſtmals, als er ſeine Freunde an einem Winter- abende mit ſeinem Spiele unterhielt, löſchte ei- ner derſelben aus Verſehen das Licht aus. Ganz in ſeine Phantaſie vertieft, weiſs er nicht eher, daſs er ſich in einem finſtern Zimmer befindet, als bis ſein Freund nach einem vergeblichen Ver- ſuche das Licht wieder zum Brennen zu bringen, ihn in ſeinem Spiele ſtört. Die Beſonnenheit liegt alſo in der Mitte zwiſchen Zerſtreuung und Vertiefung. Beide Zuſtände ſind Abweichungen von ihr nach verſchiedenen Richtungen. Je weiter der Menſch von dem normalen Standpunkt in der Mitte ſich entfernt, deſto mehr iſt er an dem einem Extrem vertieft, am andern zerſtreut und an beiden En- den auf dem Wege zur Verrückung. Der Zer- ſtreute irrt unter einer Menge von Gegenſtänden herum, ohne einen feſtzuhalten; der Vertiefte kann ſich von dem Objekte nicht losreiſsen, das *) l. c. 1 Th. 44 S.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/114
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/114>, abgerufen am 26.04.2024.