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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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2. Der Dipylon-Stil.
Es ist etwas Raffinirtes in der Vertheilung der Ornamente. Es
herrscht zwar die elementare Eintheilung in Streifen: also ein Schema,
über welches die mykenische Kunst weit hinausgekommen war. Aber
die Abwechslung der Streifen nach der Breite, die hiebei beobachteten
"tektonischen" Rücksichten, die Einfügung figürlicher Scenen, dies Alles
verräth eine vorgeschrittenere überlegtere Dekorationskunst, als wir
sie in den rein geometrischen Stilen -- den nordischen, den ältesten
kyprischen, den amerikanischen, den polynesischen -- anzutreffen ge-
wöhnt sind. Der Dipylon-Stil lässt sich überhaupt nicht mit einer
kurzen Formel abthun. Er ist keine blosse Uebertragung des Runden,
wie es in der mykenischen Kunst das Herrschende gewesen ist, in's
Eckige. Wir begegnen im Dipylon runden Linien neben eckigen,
Kreisen neben Quadraten, rosettenartigen Vier- und Mehrblättern neben
Strahlenrosetten.

Wodurch sich das Dipylon als doch noch nicht ausser allem Zu-
sammenhange mit einer naiven, bloss schmucksuchenden Kunststufe
erweist, das ist neben der Streifenmusterung der Horror vacui.
Namentlich, wo figürliche Darstellungen auftreten, erscheint der ge-
sammte von den Figuren oder dem Beiwerk der Scenen nicht in An-
spruch genommene Raum mit Füllmotiven überstreut. Ueber diesen
Standpunkt war die "mykenische" Kunst längst hinausgekommen. Das
Vorhandensein figürlicher Scenen in der Dekoration scheint zwar an
sich Zeugniss von einer höheren Entwicklung abzugeben; aber die
Figuren selbst, insbesondere die menschlichen, stehen weit zurück hinter
denjenigen, welche die mykenische Kunst geschaffen hat, hinter den
charakteristischen, lebendig bewegten Erscheinungen etwa des Vaphio-
bechers oder auf der Dolchklinge mit dem Löwenkampf. Ob wir nun
diese Stilisirung der Figuren im Dipylon für eine originale Errungen-
schaft seiner Träger, oder aber für Nachbildungen nach dem egypti-
schen Kanon halten, wofür in der That Manches58) zu sprechen scheint:
immer gelangen wir auf eine tiefer gelegene Stufe der Kunstentwick-
lung als diejenige gewesen ist, die bereits von der mykenischen Kunst
erreicht worden war.

Als charakteristisch für das Dipylon wird seit Conze59) das Fehlen

58) Namentlich sind die Oberkörper der menschlichen Figuren viel strenger
als in der mykenischen Kunst in der Vorderansicht gebildet; über Egyptisches
im Dipylon vgl. Kroker im archäol. Jahrb. 1886, S. 95 ff.
59) Zur Geschichte der Anfänge der griechischen Kunst, in den Sitzungs-
berichten der kk. Akad. der Wissensch. phil. hist. Classe LXIV. 2. Heft, 1870.

2. Der Dipylon-Stil.
Es ist etwas Raffinirtes in der Vertheilung der Ornamente. Es
herrscht zwar die elementare Eintheilung in Streifen: also ein Schema,
über welches die mykenische Kunst weit hinausgekommen war. Aber
die Abwechslung der Streifen nach der Breite, die hiebei beobachteten
„tektonischen“ Rücksichten, die Einfügung figürlicher Scenen, dies Alles
verräth eine vorgeschrittenere überlegtere Dekorationskunst, als wir
sie in den rein geometrischen Stilen — den nordischen, den ältesten
kyprischen, den amerikanischen, den polynesischen — anzutreffen ge-
wöhnt sind. Der Dipylon-Stil lässt sich überhaupt nicht mit einer
kurzen Formel abthun. Er ist keine blosse Uebertragung des Runden,
wie es in der mykenischen Kunst das Herrschende gewesen ist, in’s
Eckige. Wir begegnen im Dipylon runden Linien neben eckigen,
Kreisen neben Quadraten, rosettenartigen Vier- und Mehrblättern neben
Strahlenrosetten.

Wodurch sich das Dipylon als doch noch nicht ausser allem Zu-
sammenhange mit einer naiven, bloss schmucksuchenden Kunststufe
erweist, das ist neben der Streifenmusterung der Horror vacui.
Namentlich, wo figürliche Darstellungen auftreten, erscheint der ge-
sammte von den Figuren oder dem Beiwerk der Scenen nicht in An-
spruch genommene Raum mit Füllmotiven überstreut. Ueber diesen
Standpunkt war die „mykenische“ Kunst längst hinausgekommen. Das
Vorhandensein figürlicher Scenen in der Dekoration scheint zwar an
sich Zeugniss von einer höheren Entwicklung abzugeben; aber die
Figuren selbst, insbesondere die menschlichen, stehen weit zurück hinter
denjenigen, welche die mykenische Kunst geschaffen hat, hinter den
charakteristischen, lebendig bewegten Erscheinungen etwa des Vaphio-
bechers oder auf der Dolchklinge mit dem Löwenkampf. Ob wir nun
diese Stilisirung der Figuren im Dipylon für eine originale Errungen-
schaft seiner Träger, oder aber für Nachbildungen nach dem egypti-
schen Kanon halten, wofür in der That Manches58) zu sprechen scheint:
immer gelangen wir auf eine tiefer gelegene Stufe der Kunstentwick-
lung als diejenige gewesen ist, die bereits von der mykenischen Kunst
erreicht worden war.

Als charakteristisch für das Dipylon wird seit Conze59) das Fehlen

58) Namentlich sind die Oberkörper der menschlichen Figuren viel strenger
als in der mykenischen Kunst in der Vorderansicht gebildet; über Egyptisches
im Dipylon vgl. Kroker im archäol. Jahrb. 1886, S. 95 ff.
59) Zur Geschichte der Anfänge der griechischen Kunst, in den Sitzungs-
berichten der kk. Akad. der Wissensch. phil. hist. Classe LXIV. 2. Heft, 1870.
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[151/0177] 2. Der Dipylon-Stil. Es ist etwas Raffinirtes in der Vertheilung der Ornamente. Es herrscht zwar die elementare Eintheilung in Streifen: also ein Schema, über welches die mykenische Kunst weit hinausgekommen war. Aber die Abwechslung der Streifen nach der Breite, die hiebei beobachteten „tektonischen“ Rücksichten, die Einfügung figürlicher Scenen, dies Alles verräth eine vorgeschrittenere überlegtere Dekorationskunst, als wir sie in den rein geometrischen Stilen — den nordischen, den ältesten kyprischen, den amerikanischen, den polynesischen — anzutreffen ge- wöhnt sind. Der Dipylon-Stil lässt sich überhaupt nicht mit einer kurzen Formel abthun. Er ist keine blosse Uebertragung des Runden, wie es in der mykenischen Kunst das Herrschende gewesen ist, in’s Eckige. Wir begegnen im Dipylon runden Linien neben eckigen, Kreisen neben Quadraten, rosettenartigen Vier- und Mehrblättern neben Strahlenrosetten. Wodurch sich das Dipylon als doch noch nicht ausser allem Zu- sammenhange mit einer naiven, bloss schmucksuchenden Kunststufe erweist, das ist neben der Streifenmusterung der Horror vacui. Namentlich, wo figürliche Darstellungen auftreten, erscheint der ge- sammte von den Figuren oder dem Beiwerk der Scenen nicht in An- spruch genommene Raum mit Füllmotiven überstreut. Ueber diesen Standpunkt war die „mykenische“ Kunst längst hinausgekommen. Das Vorhandensein figürlicher Scenen in der Dekoration scheint zwar an sich Zeugniss von einer höheren Entwicklung abzugeben; aber die Figuren selbst, insbesondere die menschlichen, stehen weit zurück hinter denjenigen, welche die mykenische Kunst geschaffen hat, hinter den charakteristischen, lebendig bewegten Erscheinungen etwa des Vaphio- bechers oder auf der Dolchklinge mit dem Löwenkampf. Ob wir nun diese Stilisirung der Figuren im Dipylon für eine originale Errungen- schaft seiner Träger, oder aber für Nachbildungen nach dem egypti- schen Kanon halten, wofür in der That Manches 58) zu sprechen scheint: immer gelangen wir auf eine tiefer gelegene Stufe der Kunstentwick- lung als diejenige gewesen ist, die bereits von der mykenischen Kunst erreicht worden war. Als charakteristisch für das Dipylon wird seit Conze 59) das Fehlen 58) Namentlich sind die Oberkörper der menschlichen Figuren viel strenger als in der mykenischen Kunst in der Vorderansicht gebildet; über Egyptisches im Dipylon vgl. Kroker im archäol. Jahrb. 1886, S. 95 ff. 59) Zur Geschichte der Anfänge der griechischen Kunst, in den Sitzungs- berichten der kk. Akad. der Wissensch. phil. hist. Classe LXIV. 2. Heft, 1870.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/177>, abgerufen am 26.04.2024.