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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
wir nebenher Bezug zu nehmen schon wiederholt Veranlassung fanden)
nämlich des Abstraktionsvermögens:

Wir sind im stande, auf gewisse Merkmale eines gedachten Dinges,
m. a. W. in irgendwelchen Elementen unsrer Vorstellung von dem-
selben, die Aufmerksamkeit zu konzentriren, dieselben in das Feld der
Aufmerksamkeit zu rücken und daselbst mehr oder minder vollkommen
zu isoliren, indem wir von andern Merkmalen absehen oder "abstrahiren",
d. h. die den letztern entsprechenden Vorstellungselemente im Be-
wusstsein zurücktreten, eventuell sie völlig aus demselben schwinden
lassen.

Solch' bewusste Steigerung des durch den Gemeinnamen schon unbe-
wusst eingeleiteten Abstraktionsprozesses wird -- aus Gründen der Arbeits-
teilung -- besonders in den Wissenschaften praktizirt; in diesen pflegt der
Geist durch reichliche Übung eine förmliche Virtuosität zu erlangen, von
den (für die Untersuchung) unwesentlichen Merkmalen der Dinge abzu-
sehen, alle Nebenumstände jeweils zu vernachlässigen, dieselben zum Be-
huf seiner eigenen Entlastung zu ignoriren und so befreit dann seine volle
Kraft dem Wesentlichen zuzuwenden.

Durch die Abstraktion überhaupt werden Vorstellungselemente so-
weit isolirt, dass sie auch allein, in gleicher Isolirtheit, reproduzirt zu
werden vermögen. Dadurch erlangen resp. erhöhen wir die Fähigkeit,
dieselben allgemein zu verwenden, nämlich sowol, mit neuen Vorstel-
lungselementen sie zu verknüpfen, als auch in andern Vorstellungs-
komplexen als diejenigen waren, aus welchen sie abstrahirt*) wurden,
sie (genauer ihresgleichen) wiederzuerkennen. Vergl. Sigwart1.

Nachdem wir z. B. vom Schnee das Merkmal der Weisse, weisser
Farbe entnahmen, auslösten, abstrahirten, werden wir das gleiche Merkmal
in der vorgestellten Nebelwolke, dem Kochsalz, der Gypsfigur, Papier etc.
wiederfinden, und würde sich auch jemand eine weisse Maus z. B. vor-
stellen können, der niemals eine solche gesehen. -- Den Anlass zum Vollzug
dieser Abstraktion aber bot die Erfahrung, dass es verschiedene weisse
Gegenstände gibt, und die Wahrnehmung dessen, worin sie unter sich über-
einstimmen und sich von den nicht weissen unterscheiden. Als auf ein
anderes Beispiel sei noch hingewiesen auf das Merkmal der "Kugelgestalt"
beim Ball, der Seifenblase etc. und auf das Merkmal der "Gestalt" über-
haupt, welches wir bei der Melodie, bei einer nach geographischer Länge
und Breite bestimmten Himmelsgegend etc. vermissen (als nicht vorhan-
den erkennen), nachdem es durch Abstraktion aus der Anschauung räum-
licher Dinge von bestimmter Begrenzung gewonnen worden.

Die Abstraktion kann schon an der Einzelvorstellung (repraesen-

*) Die Ausdrücke "etwas abstrahiren" und "von etwas abstrahiren" sind
wohl zu unterscheiden. Ersteres ist gleichbedeutend mit "darauf reflektiren", letz-
teres mit "davon absehen".

Einleitung.
wir nebenher Bezug zu nehmen schon wiederholt Veranlassung fanden)
nämlich des Abstraktionsvermögens:

Wir sind im stande, auf gewisse Merkmale eines gedachten Dinges,
m. a. W. in irgendwelchen Elementen unsrer Vorstellung von dem-
selben, die Aufmerksamkeit zu konzentriren, dieselben in das Feld der
Aufmerksamkeit zu rücken und daselbst mehr oder minder vollkommen
zu isoliren, indem wir von andern Merkmalen absehen oder „abstrahiren“,
d. h. die den letztern entsprechenden Vorstellungselemente im Be-
wusstsein zurücktreten, eventuell sie völlig aus demselben schwinden
lassen.

Solch' bewusste Steigerung des durch den Gemeinnamen schon unbe-
wusst eingeleiteten Abstraktionsprozesses wird — aus Gründen der Arbeits-
teilung — besonders in den Wissenschaften praktizirt; in diesen pflegt der
Geist durch reichliche Übung eine förmliche Virtuosität zu erlangen, von
den (für die Untersuchung) unwesentlichen Merkmalen der Dinge abzu-
sehen, alle Nebenumstände jeweils zu vernachlässigen, dieselben zum Be-
huf seiner eigenen Entlastung zu ignoriren und so befreit dann seine volle
Kraft dem Wesentlichen zuzuwenden.

Durch die Abstraktion überhaupt werden Vorstellungselemente so-
weit isolirt, dass sie auch allein, in gleicher Isolirtheit, reproduzirt zu
werden vermögen. Dadurch erlangen resp. erhöhen wir die Fähigkeit,
dieselben allgemein zu verwenden, nämlich sowol, mit neuen Vorstel-
lungselementen sie zu verknüpfen, als auch in andern Vorstellungs-
komplexen als diejenigen waren, aus welchen sie abstrahirt*) wurden,
sie (genauer ihresgleichen) wiederzuerkennen. Vergl. Sigwart1.

Nachdem wir z. B. vom Schnee das Merkmal der Weisse, weisser
Farbe entnahmen, auslösten, abstrahirten, werden wir das gleiche Merkmal
in der vorgestellten Nebelwolke, dem Kochsalz, der Gypsfigur, Papier etc.
wiederfinden, und würde sich auch jemand eine weisse Maus z. B. vor-
stellen können, der niemals eine solche gesehen. — Den Anlass zum Vollzug
dieser Abstraktion aber bot die Erfahrung, dass es verschiedene weisse
Gegenstände gibt, und die Wahrnehmung dessen, worin sie unter sich über-
einstimmen und sich von den nicht weissen unterscheiden. Als auf ein
anderes Beispiel sei noch hingewiesen auf das Merkmal der „Kugelgestalt“
beim Ball, der Seifenblase etc. und auf das Merkmal der „Gestalt“ über-
haupt, welches wir bei der Melodie, bei einer nach geographischer Länge
und Breite bestimmten Himmelsgegend etc. vermissen (als nicht vorhan-
den erkennen), nachdem es durch Abstraktion aus der Anschauung räum-
licher Dinge von bestimmter Begrenzung gewonnen worden.

Die Abstraktion kann schon an der Einzelvorstellung (repraesen-

*) Die Ausdrücke „etwas abstrahiren“ und „von etwas abstrahiren“ sind
wohl zu unterscheiden. Ersteres ist gleichbedeutend mit „darauf reflektiren“, letz-
teres mit „davon absehen“.
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[82/0102] Einleitung. wir nebenher Bezug zu nehmen schon wiederholt Veranlassung fanden) nämlich des Abstraktionsvermögens: Wir sind im stande, auf gewisse Merkmale eines gedachten Dinges, m. a. W. in irgendwelchen Elementen unsrer Vorstellung von dem- selben, die Aufmerksamkeit zu konzentriren, dieselben in das Feld der Aufmerksamkeit zu rücken und daselbst mehr oder minder vollkommen zu isoliren, indem wir von andern Merkmalen absehen oder „abstrahiren“, d. h. die den letztern entsprechenden Vorstellungselemente im Be- wusstsein zurücktreten, eventuell sie völlig aus demselben schwinden lassen. Solch' bewusste Steigerung des durch den Gemeinnamen schon unbe- wusst eingeleiteten Abstraktionsprozesses wird — aus Gründen der Arbeits- teilung — besonders in den Wissenschaften praktizirt; in diesen pflegt der Geist durch reichliche Übung eine förmliche Virtuosität zu erlangen, von den (für die Untersuchung) unwesentlichen Merkmalen der Dinge abzu- sehen, alle Nebenumstände jeweils zu vernachlässigen, dieselben zum Be- huf seiner eigenen Entlastung zu ignoriren und so befreit dann seine volle Kraft dem Wesentlichen zuzuwenden. Durch die Abstraktion überhaupt werden Vorstellungselemente so- weit isolirt, dass sie auch allein, in gleicher Isolirtheit, reproduzirt zu werden vermögen. Dadurch erlangen resp. erhöhen wir die Fähigkeit, dieselben allgemein zu verwenden, nämlich sowol, mit neuen Vorstel- lungselementen sie zu verknüpfen, als auch in andern Vorstellungs- komplexen als diejenigen waren, aus welchen sie abstrahirt *) wurden, sie (genauer ihresgleichen) wiederzuerkennen. Vergl. Sigwart1. Nachdem wir z. B. vom Schnee das Merkmal der Weisse, weisser Farbe entnahmen, auslösten, abstrahirten, werden wir das gleiche Merkmal in der vorgestellten Nebelwolke, dem Kochsalz, der Gypsfigur, Papier etc. wiederfinden, und würde sich auch jemand eine weisse Maus z. B. vor- stellen können, der niemals eine solche gesehen. — Den Anlass zum Vollzug dieser Abstraktion aber bot die Erfahrung, dass es verschiedene weisse Gegenstände gibt, und die Wahrnehmung dessen, worin sie unter sich über- einstimmen und sich von den nicht weissen unterscheiden. Als auf ein anderes Beispiel sei noch hingewiesen auf das Merkmal der „Kugelgestalt“ beim Ball, der Seifenblase etc. und auf das Merkmal der „Gestalt“ über- haupt, welches wir bei der Melodie, bei einer nach geographischer Länge und Breite bestimmten Himmelsgegend etc. vermissen (als nicht vorhan- den erkennen), nachdem es durch Abstraktion aus der Anschauung räum- licher Dinge von bestimmter Begrenzung gewonnen worden. Die Abstraktion kann schon an der Einzelvorstellung (repraesen- *) Die Ausdrücke „etwas abstrahiren“ und „von etwas abstrahiren“ sind wohl zu unterscheiden. Ersteres ist gleichbedeutend mit „darauf reflektiren“, letz- teres mit „davon absehen“.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/102>, abgerufen am 26.04.2024.