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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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tönte durch die Gemächer und tobte durch die er¬
schütterte Stadt. Mitten im Laufe -- denn sie war
auf den Ruf der Alten mit dem letzten Opfergeräthe her¬
beigeeilt -- vernahm Anna die entsetzliche That. Sie
schlug sich die Brust mit den Fäusten, zerfleischte mit
den Nägeln ihr Antlitz und stürzte durch das Gedränge
des sich sammelnden Volkes in den Hof der Königsburg
hinab. "Schwester, Schwester!" rief sie der Sterbenden
schon von weitem zu, "was hast du gethan, wie hast du
mich betrogen? Warum hast du mich nicht zur Gefähr¬
tin deines Todes erkohren? du hast mich doch getödtet;
das Volk, deine Väter, die ganze Stadt hast du ge¬
mordet!" Unter solchen Wehklagen erstieg sie die Stu¬
fen des Holzstoßes, und umarmte die kaum noch Athem
holende Schwester, die mit Mühe den Blick erhob und
deren schwarze Wunde aufs Neue zu bluten anfing. Drei¬
mal strebte sie vergebens sich aufzurichten und hauchte
zusammengesunken den Geist in den Armen der Schwester
aus.


tönte durch die Gemächer und tobte durch die er¬
ſchütterte Stadt. Mitten im Laufe — denn ſie war
auf den Ruf der Alten mit dem letzten Opfergeräthe her¬
beigeeilt — vernahm Anna die entſetzliche That. Sie
ſchlug ſich die Bruſt mit den Fäuſten, zerfleiſchte mit
den Nägeln ihr Antlitz und ſtürzte durch das Gedränge
des ſich ſammelnden Volkes in den Hof der Königsburg
hinab. „Schweſter, Schweſter!“ rief ſie der Sterbenden
ſchon von weitem zu, „was haſt du gethan, wie haſt du
mich betrogen? Warum haſt du mich nicht zur Gefähr¬
tin deines Todes erkohren? du haſt mich doch getödtet;
das Volk, deine Väter, die ganze Stadt haſt du ge¬
mordet!“ Unter ſolchen Wehklagen erſtieg ſie die Stu¬
fen des Holzſtoßes, und umarmte die kaum noch Athem
holende Schweſter, die mit Mühe den Blick erhob und
deren ſchwarze Wunde aufs Neue zu bluten anfing. Drei¬
mal ſtrebte ſie vergebens ſich aufzurichten und hauchte
zuſammengeſunken den Geiſt in den Armen der Schweſter
aus.


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[344/0366] tönte durch die Gemächer und tobte durch die er¬ ſchütterte Stadt. Mitten im Laufe — denn ſie war auf den Ruf der Alten mit dem letzten Opfergeräthe her¬ beigeeilt — vernahm Anna die entſetzliche That. Sie ſchlug ſich die Bruſt mit den Fäuſten, zerfleiſchte mit den Nägeln ihr Antlitz und ſtürzte durch das Gedränge des ſich ſammelnden Volkes in den Hof der Königsburg hinab. „Schweſter, Schweſter!“ rief ſie der Sterbenden ſchon von weitem zu, „was haſt du gethan, wie haſt du mich betrogen? Warum haſt du mich nicht zur Gefähr¬ tin deines Todes erkohren? du haſt mich doch getödtet; das Volk, deine Väter, die ganze Stadt haſt du ge¬ mordet!“ Unter ſolchen Wehklagen erſtieg ſie die Stu¬ fen des Holzſtoßes, und umarmte die kaum noch Athem holende Schweſter, die mit Mühe den Blick erhob und deren ſchwarze Wunde aufs Neue zu bluten anfing. Drei¬ mal ſtrebte ſie vergebens ſich aufzurichten und hauchte zuſammengeſunken den Geiſt in den Armen der Schweſter aus.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/366>, abgerufen am 26.04.2024.