Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

zeigte sich noch nicht seine volle Wirkung; es äußerte
sich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen
sich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und
über die Vermählung iher Tochter zu klagen: "Grausa¬
mer Gatte," sagte sie zu sich selbst, "du hast weder mit
mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo ist deine frü¬
here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das
du so oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben hast?
An heimathlose Flüchtlinge verschenkst du unser Kind!"

Solche Klagen richtete sie auch an ihren Gemahl
selbst. Aber als sie ihn fest und unwiderruflich auf sei¬
nem Beschlusse beharren sah, da erst durchströmte sie das
Schlangengift der Furie ganz und sie tobte wie wahn¬
sinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und
hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬
bracht. Sofort schwang sie sich in die Hauptstadt der
Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet
haben soll, und die von Alters her den Namen Ardea
führte. Hier fand sie im Innersten des Königspalastes
den Fürsten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte
Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Gestalt eines
alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne
und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren,
um welche sich ein Olivenzweig schlang, so daß sie ganz
und gar der greisen Kalybe, der Tempelpriesterin Juno's
glich. In dieser Gestalt trat sie vor den schlummernden
Jüngling und sprach: "Ist es auch möglich, Turnus,
kannst du ohne Zorn es mit ansehen, wie alle deine
Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete,
an trojanische Landfahrer verschenkt wird? Mich sendet
Juno selbst zu dir: du sollst dein Volk waffnen, sollst

zeigte ſich noch nicht ſeine volle Wirkung; es äußerte
ſich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen
ſich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und
über die Vermählung iher Tochter zu klagen: „Grauſa¬
mer Gatte,“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „du haſt weder mit
mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo iſt deine frü¬
here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das
du ſo oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben haſt?
An heimathloſe Flüchtlinge verſchenkſt du unſer Kind!“

Solche Klagen richtete ſie auch an ihren Gemahl
ſelbſt. Aber als ſie ihn feſt und unwiderruflich auf ſei¬
nem Beſchluſſe beharren ſah, da erſt durchſtrömte ſie das
Schlangengift der Furie ganz und ſie tobte wie wahn¬
ſinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und
hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬
bracht. Sofort ſchwang ſie ſich in die Hauptſtadt der
Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet
haben ſoll, und die von Alters her den Namen Ardea
führte. Hier fand ſie im Innerſten des Königspalaſtes
den Fürſten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte
Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Geſtalt eines
alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne
und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren,
um welche ſich ein Olivenzweig ſchlang, ſo daß ſie ganz
und gar der greiſen Kalybe, der Tempelprieſterin Juno's
glich. In dieſer Geſtalt trat ſie vor den ſchlummernden
Jüngling und ſprach: „Iſt es auch möglich, Turnus,
kannſt du ohne Zorn es mit anſehen, wie alle deine
Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete,
an trojaniſche Landfahrer verſchenkt wird? Mich ſendet
Juno ſelbſt zu dir: du ſollſt dein Volk waffnen, ſollſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0378" n="356"/>
zeigte &#x017F;ich noch nicht &#x017F;eine volle Wirkung; es äußerte<lb/>
&#x017F;ich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen<lb/>
&#x017F;ich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und<lb/>
über die Vermählung iher Tochter zu klagen: &#x201E;Grau&#x017F;<lb/>
mer Gatte,&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, &#x201E;du ha&#x017F;t weder mit<lb/>
mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo i&#x017F;t deine frü¬<lb/>
here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das<lb/>
du &#x017F;o oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben ha&#x017F;t?<lb/>
An heimathlo&#x017F;e Flüchtlinge ver&#x017F;chenk&#x017F;t du un&#x017F;er Kind!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Solche Klagen richtete &#x017F;ie auch an ihren Gemahl<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t. Aber als &#x017F;ie ihn fe&#x017F;t und unwiderruflich auf &#x017F;ei¬<lb/>
nem Be&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e beharren &#x017F;ah, da er&#x017F;t durch&#x017F;trömte &#x017F;ie das<lb/>
Schlangengift der Furie ganz und &#x017F;ie tobte wie wahn¬<lb/>
&#x017F;innig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und<lb/>
hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬<lb/>
bracht. Sofort &#x017F;chwang &#x017F;ie &#x017F;ich in die Haupt&#x017F;tadt der<lb/>
Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet<lb/>
haben &#x017F;oll, und die von Alters her den Namen Ardea<lb/>
führte. Hier fand &#x017F;ie im Inner&#x017F;ten des Königspala&#x017F;tes<lb/>
den Für&#x017F;ten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte<lb/>
Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Ge&#x017F;talt eines<lb/>
alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne<lb/>
und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren,<lb/>
um welche &#x017F;ich ein Olivenzweig &#x017F;chlang, &#x017F;o daß &#x017F;ie ganz<lb/>
und gar der grei&#x017F;en Kalybe, der Tempelprie&#x017F;terin Juno's<lb/>
glich. In die&#x017F;er Ge&#x017F;talt trat &#x017F;ie vor den &#x017F;chlummernden<lb/>
Jüngling und &#x017F;prach: &#x201E;I&#x017F;t es auch möglich, Turnus,<lb/>
kann&#x017F;t du ohne Zorn es mit an&#x017F;ehen, wie alle deine<lb/>
Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete,<lb/>
an trojani&#x017F;che Landfahrer ver&#x017F;chenkt wird? Mich &#x017F;endet<lb/>
Juno &#x017F;elb&#x017F;t zu dir: du &#x017F;oll&#x017F;t dein Volk waffnen, &#x017F;oll&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0378] zeigte ſich noch nicht ſeine volle Wirkung; es äußerte ſich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen ſich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und über die Vermählung iher Tochter zu klagen: „Grauſa¬ mer Gatte,“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „du haſt weder mit mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo iſt deine frü¬ here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das du ſo oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben haſt? An heimathloſe Flüchtlinge verſchenkſt du unſer Kind!“ Solche Klagen richtete ſie auch an ihren Gemahl ſelbſt. Aber als ſie ihn feſt und unwiderruflich auf ſei¬ nem Beſchluſſe beharren ſah, da erſt durchſtrömte ſie das Schlangengift der Furie ganz und ſie tobte wie wahn¬ ſinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬ bracht. Sofort ſchwang ſie ſich in die Hauptſtadt der Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet haben ſoll, und die von Alters her den Namen Ardea führte. Hier fand ſie im Innerſten des Königspalaſtes den Fürſten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Geſtalt eines alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren, um welche ſich ein Olivenzweig ſchlang, ſo daß ſie ganz und gar der greiſen Kalybe, der Tempelprieſterin Juno's glich. In dieſer Geſtalt trat ſie vor den ſchlummernden Jüngling und ſprach: „Iſt es auch möglich, Turnus, kannſt du ohne Zorn es mit anſehen, wie alle deine Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete, an trojaniſche Landfahrer verſchenkt wird? Mich ſendet Juno ſelbſt zu dir: du ſollſt dein Volk waffnen, ſollſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/378
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/378>, abgerufen am 26.04.2024.