Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und
drängte sich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen,
in einem Kreis um seinen Führer.

Da stand nun Aeneas in der Mitte und sprach von
einer Erhöhung herab: "Zögert nicht, meine Befehle zu
erfüllen. Jupiter steht auf unserer Seite. Wenn die
Feinde sich nicht heute unterwerfen, so stürze ich die
Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel
dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem
Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu bestehen? Nein,
hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit
Fackeln herbei, mahnet sie mit Flammen an ihr Bünd¬
niß!" So sprach er und sein ganzes Heer bildete auf
der Stelle einen Keil und drängte sich in dichter Masse
der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬
brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und
fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen stiegen über die
Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas seine Rechte
hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König
Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen
Bündnisses an.

Unter den geängsteten Bürgern entstand Zwietracht:
die Einen verlangten, man sollte die Stadt den Troja¬
nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus
selbst zurückrufen und zum Abschlusse des Friedens zwin¬
gen: andere schleppten Waffen herbei und sannen auf
die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata,
als sie vom Dache des Palastes aus den Feind heran¬
nahen sah, die Mauern erstürmt, Brände auf die Häu¬
ser geworfen, nirgends den Turnus oder sonst ein
Rutulerheer den Feinden entgegengestellt: klagte sich selbst

das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und
drängte ſich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen,
in einem Kreis um ſeinen Führer.

Da ſtand nun Aeneas in der Mitte und ſprach von
einer Erhöhung herab: „Zögert nicht, meine Befehle zu
erfüllen. Jupiter ſteht auf unſerer Seite. Wenn die
Feinde ſich nicht heute unterwerfen, ſo ſtürze ich die
Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel
dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem
Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu beſtehen? Nein,
hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit
Fackeln herbei, mahnet ſie mit Flammen an ihr Bünd¬
niß!“ So ſprach er und ſein ganzes Heer bildete auf
der Stelle einen Keil und drängte ſich in dichter Maſſe
der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬
brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und
fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen ſtiegen über die
Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas ſeine Rechte
hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König
Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen
Bündniſſes an.

Unter den geängſteten Bürgern entſtand Zwietracht:
die Einen verlangten, man ſollte die Stadt den Troja¬
nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus
ſelbſt zurückrufen und zum Abſchluſſe des Friedens zwin¬
gen: andere ſchleppten Waffen herbei und ſannen auf
die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata,
als ſie vom Dache des Palaſtes aus den Feind heran¬
nahen ſah, die Mauern erſtürmt, Brände auf die Häu¬
ſer geworfen, nirgends den Turnus oder ſonſt ein
Rutulerheer den Feinden entgegengeſtellt: klagte ſich ſelbſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0452" n="430"/>
das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und<lb/>
drängte &#x017F;ich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen,<lb/>
in einem Kreis um &#x017F;einen Führer.</p><lb/>
            <p>Da &#x017F;tand nun Aeneas in der Mitte und &#x017F;prach von<lb/>
einer Erhöhung herab: &#x201E;Zögert nicht, meine Befehle zu<lb/>
erfüllen. Jupiter &#x017F;teht auf un&#x017F;erer Seite. Wenn die<lb/>
Feinde &#x017F;ich nicht heute unterwerfen, &#x017F;o &#x017F;türze ich die<lb/>
Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel<lb/>
dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem<lb/>
Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu be&#x017F;tehen? Nein,<lb/>
hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit<lb/>
Fackeln herbei, mahnet &#x017F;ie mit Flammen an ihr Bünd¬<lb/>
niß!&#x201C; So &#x017F;prach er und &#x017F;ein ganzes Heer bildete auf<lb/>
der Stelle einen Keil und drängte &#x017F;ich in dichter Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬<lb/>
brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und<lb/>
fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen &#x017F;tiegen über die<lb/>
Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas &#x017F;eine Rechte<lb/>
hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König<lb/>
Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen<lb/>
Bündni&#x017F;&#x017F;es an.</p><lb/>
            <p>Unter den geäng&#x017F;teten Bürgern ent&#x017F;tand Zwietracht:<lb/>
die Einen verlangten, man &#x017F;ollte die Stadt den Troja¬<lb/>
nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zurückrufen und zum Ab&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e des Friedens zwin¬<lb/>
gen: andere &#x017F;chleppten Waffen herbei und &#x017F;annen auf<lb/>
die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata,<lb/>
als &#x017F;ie vom Dache des Pala&#x017F;tes aus den Feind heran¬<lb/>
nahen &#x017F;ah, die Mauern er&#x017F;türmt, Brände auf die Häu¬<lb/>
&#x017F;er geworfen, nirgends den Turnus oder &#x017F;on&#x017F;t ein<lb/>
Rutulerheer den Feinden entgegenge&#x017F;tellt: klagte &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0452] das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und drängte ſich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen, in einem Kreis um ſeinen Führer. Da ſtand nun Aeneas in der Mitte und ſprach von einer Erhöhung herab: „Zögert nicht, meine Befehle zu erfüllen. Jupiter ſteht auf unſerer Seite. Wenn die Feinde ſich nicht heute unterwerfen, ſo ſtürze ich die Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu beſtehen? Nein, hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit Fackeln herbei, mahnet ſie mit Flammen an ihr Bünd¬ niß!“ So ſprach er und ſein ganzes Heer bildete auf der Stelle einen Keil und drängte ſich in dichter Maſſe der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬ brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen ſtiegen über die Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas ſeine Rechte hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bündniſſes an. Unter den geängſteten Bürgern entſtand Zwietracht: die Einen verlangten, man ſollte die Stadt den Troja¬ nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus ſelbſt zurückrufen und zum Abſchluſſe des Friedens zwin¬ gen: andere ſchleppten Waffen herbei und ſannen auf die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata, als ſie vom Dache des Palaſtes aus den Feind heran¬ nahen ſah, die Mauern erſtürmt, Brände auf die Häu¬ ſer geworfen, nirgends den Turnus oder ſonſt ein Rutulerheer den Feinden entgegengeſtellt: klagte ſich ſelbſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/452
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/452>, abgerufen am 26.04.2024.