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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Armen sind auf die christliche Armenliebe -- das Wort charite ist nicht
anders zu übersetzen -- angewiesen. Die Organisation dieser an sich
freien Bethätigung der Charite ist zunächst dadurch eine amtliche ge-
worden, daß das Armenwesen gewisse indirekte Einkommensquellen
hat (Betheiligung an dem Ertrage von Schauspielen, Licitationen etc.).
Dieselbe besteht in den bureaux de bienfaisance, ihre Unterstützungen
heißen in neuerer Zeit secours a domicile (wohl nach Muster des
englischen outdoor-reliefs) und diese sind an gar keine Gemeindeange-
hörigkeit gebunden.

Fassen wir nun dieß administrative Ordnungsrecht der Bevölkerung
in Frankreich kurz zusammen, so werden wir mit Beziehung auf die
früher aufgestellten Begriffe sagen können, daß mit einer einzigen nach-
weisbaren oder unsicheren Ausnahme bei den Hospices die ganze Ord-
nung in die der Elections und der Competence nebst dem Domicile
aufgegangen, oder daß das Gemeindebürgerrecht zu einem untergeordneten
Theil des öffentlichen Wahlrechts (wieder mit einer Ausnahme bei den
Departementalräthen) die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathsrecht
aber zu einem Theil der amtlichen Zuständigkeit für alle administrativen
Funktionen geworden ist.

Wie ganz anders ist dagegen das Bild, das uns Deutschland dar-
bietet! --

Deutschland.

(Allgemeiner Charakter. Bei strenger Durchführung der Systeme von
amtlicher Competenz und Zuständigkeit fast gänzlicher Mangel an Verwaltungs-
gemeinden; Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Orts-
gemeinde.)

Hält man nun auf Grundlage der oben aufgestellten Begriffe einer-
seits die Gesetzgebung und anderseits die Literatur der deutschen Staaten
mit dem zusammen, was in dieser Beziehung von England und Frank-
reich gilt und geleistet ist, so müssen zwei Dinge auffallen. Zuerst
ein viel größerer Reichthum an Gesetzen, theoretischen Arbeiten, und
namentlich auch an Ausdrücken, die theils gar nicht, theils sehr schwer
in fremde Sprachen übersetzbar sind. Dahin gehören Gemeinderecht,
Freizügigkeit, Niederlassung, Einbürgerung, Einwohner, Wohnsitz, Aufent-
halt, Heimath. Zweitens eine große Unklarheit nicht bloß über das,
was die Gesetzgebungen wollen, sondern auch über das, was die Theorie
unter ihren verschiedenen Ausdrücken versteht, indem man sich bestrebt,
mit jedem jener Worte ein besonderes Recht zu verbinden und mithin
so viele Rechtsverhältnisse in das administrative Bevölkerungsrecht hin-
einzubringen, als es Ausdrücke gibt, ohne jedoch, was die Hauptsache

Armen ſind auf die chriſtliche Armenliebe — das Wort charité iſt nicht
anders zu überſetzen — angewieſen. Die Organiſation dieſer an ſich
freien Bethätigung der Charité iſt zunächſt dadurch eine amtliche ge-
worden, daß das Armenweſen gewiſſe indirekte Einkommensquellen
hat (Betheiligung an dem Ertrage von Schauſpielen, Licitationen ꝛc.).
Dieſelbe beſteht in den bureaux de bienfaisance, ihre Unterſtützungen
heißen in neuerer Zeit secours à domicile (wohl nach Muſter des
engliſchen outdoor-reliefs) und dieſe ſind an gar keine Gemeindeange-
hörigkeit gebunden.

Faſſen wir nun dieß adminiſtrative Ordnungsrecht der Bevölkerung
in Frankreich kurz zuſammen, ſo werden wir mit Beziehung auf die
früher aufgeſtellten Begriffe ſagen können, daß mit einer einzigen nach-
weisbaren oder unſicheren Ausnahme bei den Hospices die ganze Ord-
nung in die der Elections und der Compétence nebſt dem Domicile
aufgegangen, oder daß das Gemeindebürgerrecht zu einem untergeordneten
Theil des öffentlichen Wahlrechts (wieder mit einer Ausnahme bei den
Departementalräthen) die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathsrecht
aber zu einem Theil der amtlichen Zuſtändigkeit für alle adminiſtrativen
Funktionen geworden iſt.

Wie ganz anders iſt dagegen das Bild, das uns Deutſchland dar-
bietet! —

Deutſchland.

(Allgemeiner Charakter. Bei ſtrenger Durchführung der Syſteme von
amtlicher Competenz und Zuſtändigkeit faſt gänzlicher Mangel an Verwaltungs-
gemeinden; Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Orts-
gemeinde.)

Hält man nun auf Grundlage der oben aufgeſtellten Begriffe einer-
ſeits die Geſetzgebung und anderſeits die Literatur der deutſchen Staaten
mit dem zuſammen, was in dieſer Beziehung von England und Frank-
reich gilt und geleiſtet iſt, ſo müſſen zwei Dinge auffallen. Zuerſt
ein viel größerer Reichthum an Geſetzen, theoretiſchen Arbeiten, und
namentlich auch an Ausdrücken, die theils gar nicht, theils ſehr ſchwer
in fremde Sprachen überſetzbar ſind. Dahin gehören Gemeinderecht,
Freizügigkeit, Niederlaſſung, Einbürgerung, Einwohner, Wohnſitz, Aufent-
halt, Heimath. Zweitens eine große Unklarheit nicht bloß über das,
was die Geſetzgebungen wollen, ſondern auch über das, was die Theorie
unter ihren verſchiedenen Ausdrücken verſteht, indem man ſich beſtrebt,
mit jedem jener Worte ein beſonderes Recht zu verbinden und mithin
ſo viele Rechtsverhältniſſe in das adminiſtrative Bevölkerungsrecht hin-
einzubringen, als es Ausdrücke gibt, ohne jedoch, was die Hauptſache

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[306/0328] Armen ſind auf die chriſtliche Armenliebe — das Wort charité iſt nicht anders zu überſetzen — angewieſen. Die Organiſation dieſer an ſich freien Bethätigung der Charité iſt zunächſt dadurch eine amtliche ge- worden, daß das Armenweſen gewiſſe indirekte Einkommensquellen hat (Betheiligung an dem Ertrage von Schauſpielen, Licitationen ꝛc.). Dieſelbe beſteht in den bureaux de bienfaisance, ihre Unterſtützungen heißen in neuerer Zeit secours à domicile (wohl nach Muſter des engliſchen outdoor-reliefs) und dieſe ſind an gar keine Gemeindeange- hörigkeit gebunden. Faſſen wir nun dieß adminiſtrative Ordnungsrecht der Bevölkerung in Frankreich kurz zuſammen, ſo werden wir mit Beziehung auf die früher aufgeſtellten Begriffe ſagen können, daß mit einer einzigen nach- weisbaren oder unſicheren Ausnahme bei den Hospices die ganze Ord- nung in die der Elections und der Compétence nebſt dem Domicile aufgegangen, oder daß das Gemeindebürgerrecht zu einem untergeordneten Theil des öffentlichen Wahlrechts (wieder mit einer Ausnahme bei den Departementalräthen) die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathsrecht aber zu einem Theil der amtlichen Zuſtändigkeit für alle adminiſtrativen Funktionen geworden iſt. Wie ganz anders iſt dagegen das Bild, das uns Deutſchland dar- bietet! — Deutſchland. (Allgemeiner Charakter. Bei ſtrenger Durchführung der Syſteme von amtlicher Competenz und Zuſtändigkeit faſt gänzlicher Mangel an Verwaltungs- gemeinden; Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Orts- gemeinde.) Hält man nun auf Grundlage der oben aufgeſtellten Begriffe einer- ſeits die Geſetzgebung und anderſeits die Literatur der deutſchen Staaten mit dem zuſammen, was in dieſer Beziehung von England und Frank- reich gilt und geleiſtet iſt, ſo müſſen zwei Dinge auffallen. Zuerſt ein viel größerer Reichthum an Geſetzen, theoretiſchen Arbeiten, und namentlich auch an Ausdrücken, die theils gar nicht, theils ſehr ſchwer in fremde Sprachen überſetzbar ſind. Dahin gehören Gemeinderecht, Freizügigkeit, Niederlaſſung, Einbürgerung, Einwohner, Wohnſitz, Aufent- halt, Heimath. Zweitens eine große Unklarheit nicht bloß über das, was die Geſetzgebungen wollen, ſondern auch über das, was die Theorie unter ihren verſchiedenen Ausdrücken verſteht, indem man ſich beſtrebt, mit jedem jener Worte ein beſonderes Recht zu verbinden und mithin ſo viele Rechtsverhältniſſe in das adminiſtrative Bevölkerungsrecht hin- einzubringen, als es Ausdrücke gibt, ohne jedoch, was die Hauptſache

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/328>, abgerufen am 19.03.2024.