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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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die durch jenes eine vertreten werden. Sie findet aber hierzu
auch noch in der Außenwelt mancherlei Aufforderung.

Die Anschauung eines bestimmten Dinges umfaßt allemal
eine Menge gegenwärtiger, sinnlicher Wahrnehmungen. Diese
Menge, dieser Complex ist aber rücksichtlich desselben Dinges
nicht immer gleich; sondern es fehlen bald einige Merkmale,
bald sind einige mit andern vertauscht. Das Kind sieht den
Hund liegend, sieht ihn aufstehen und gehen, hat also drei An-
schauungen, alle drei identisch und doch verschieden. Wir den-
ken uns hier das Kind eben auf der Stufe, auf welcher unsere
Darlegung steht. Die Anschauung ist ihm zu einem Merk-
male zugespitzt; der ganze Hund wird vor seinem Bewußtsein
vertreten, vorgestellt durch Wauwau. Dieses Wauwau ist nicht
Substantiv, nicht Verb, nicht Ding, nicht Thätigkeit, sondern
alles was der Hund ist und thut; es gilt dem Kinde für alles
was es vom Hunde weiß, ist ihm das Aequivalent der ganzen
Masse von Anschauungen, welche es von ihm hat. Also Wau-
wau liegt, erhebt sich, geht, ist bald schwarz, bald weiß -- denn
zunächst weiß das Kind nicht, daß der schwarze ein anderer
ist, als der weiße --; das Kind sieht dann auch mehrere Wau-
waus, große und kleine, schwarze und weiße beisammen. Und
auf alle diese verschiedenen Anschauungen bezieht sich sein Wau-
wau. Haben wir hier nicht schon die Einheit in der Verschie-
denheit? Nun wird Wauwau ein fester Punkt, eine Einheit, an
welche sich die bemerkten Verschiedenheiten anreihen; d. h.
Wauwau wird Subject, und die veränderlichen Merkmale wer-
den Prädicat. Wenn in der Anschauung die Summe der em-
pfundenen Merkmale gewissermaßen das Prädicat des Dinges,
des wirklichen Objects sind, welches als Subject gilt: so ist auf
der ersten Stufe der Vorstellung nur der Unterschied eingetre-
ten, daß sämmtliche Wahrnehmungen am Dinge, also z. B. am
Hunde, durch das eine Prädicat wauwau ersetzt werden. Jetzt
aber sahen wir die zweite Stufe eintreten, wo Wauwau zum
Subjecte der veränderlichen Merkmale wird, welche als Prädicate
gelten. Nun erst erhält Wauwau die Bedeutung des Hundes an
sich, der Substanz, des Dinges, und das Ding wird von seinen
Thätigkeiten und Eigenschaften geschieden. Die Wahrnehmun-
gen dieser veränderlichen Eigenschaften und Thätigkeiten sind
es jetzt, welche das Interesse des kindlichen Geistes erregen und
sich in Lauten reflectiren. Der Urmensch, kräftiger, als das

die durch jenes eine vertreten werden. Sie findet aber hierzu
auch noch in der Außenwelt mancherlei Aufforderung.

Die Anschauung eines bestimmten Dinges umfaßt allemal
eine Menge gegenwärtiger, sinnlicher Wahrnehmungen. Diese
Menge, dieser Complex ist aber rücksichtlich desselben Dinges
nicht immer gleich; sondern es fehlen bald einige Merkmale,
bald sind einige mit andern vertauscht. Das Kind sieht den
Hund liegend, sieht ihn aufstehen und gehen, hat also drei An-
schauungen, alle drei identisch und doch verschieden. Wir den-
ken uns hier das Kind eben auf der Stufe, auf welcher unsere
Darlegung steht. Die Anschauung ist ihm zu einem Merk-
male zugespitzt; der ganze Hund wird vor seinem Bewußtsein
vertreten, vorgestellt durch Wauwau. Dieses Wauwau ist nicht
Substantiv, nicht Verb, nicht Ding, nicht Thätigkeit, sondern
alles was der Hund ist und thut; es gilt dem Kinde für alles
was es vom Hunde weiß, ist ihm das Aequivalent der ganzen
Masse von Anschauungen, welche es von ihm hat. Also Wau-
wau liegt, erhebt sich, geht, ist bald schwarz, bald weiß — denn
zunächst weiß das Kind nicht, daß der schwarze ein anderer
ist, als der weiße —; das Kind sieht dann auch mehrere Wau-
waus, große und kleine, schwarze und weiße beisammen. Und
auf alle diese verschiedenen Anschauungen bezieht sich sein Wau-
wau. Haben wir hier nicht schon die Einheit in der Verschie-
denheit? Nun wird Wauwau ein fester Punkt, eine Einheit, an
welche sich die bemerkten Verschiedenheiten anreihen; d. h.
Wauwau wird Subject, und die veränderlichen Merkmale wer-
den Prädicat. Wenn in der Anschauung die Summe der em-
pfundenen Merkmale gewissermaßen das Prädicat des Dinges,
des wirklichen Objects sind, welches als Subject gilt: so ist auf
der ersten Stufe der Vorstellung nur der Unterschied eingetre-
ten, daß sämmtliche Wahrnehmungen am Dinge, also z. B. am
Hunde, durch das eine Prädicat wauwau ersetzt werden. Jetzt
aber sahen wir die zweite Stufe eintreten, wo Wauwau zum
Subjecte der veränderlichen Merkmale wird, welche als Prädicate
gelten. Nun erst erhält Wauwau die Bedeutung des Hundes an
sich, der Substanz, des Dinges, und das Ding wird von seinen
Thätigkeiten und Eigenschaften geschieden. Die Wahrnehmun-
gen dieser veränderlichen Eigenschaften und Thätigkeiten sind
es jetzt, welche das Interesse des kindlichen Geistes erregen und
sich in Lauten reflectiren. Der Urmensch, kräftiger, als das

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[327/0365] die durch jenes eine vertreten werden. Sie findet aber hierzu auch noch in der Außenwelt mancherlei Aufforderung. Die Anschauung eines bestimmten Dinges umfaßt allemal eine Menge gegenwärtiger, sinnlicher Wahrnehmungen. Diese Menge, dieser Complex ist aber rücksichtlich desselben Dinges nicht immer gleich; sondern es fehlen bald einige Merkmale, bald sind einige mit andern vertauscht. Das Kind sieht den Hund liegend, sieht ihn aufstehen und gehen, hat also drei An- schauungen, alle drei identisch und doch verschieden. Wir den- ken uns hier das Kind eben auf der Stufe, auf welcher unsere Darlegung steht. Die Anschauung ist ihm zu einem Merk- male zugespitzt; der ganze Hund wird vor seinem Bewußtsein vertreten, vorgestellt durch Wauwau. Dieses Wauwau ist nicht Substantiv, nicht Verb, nicht Ding, nicht Thätigkeit, sondern alles was der Hund ist und thut; es gilt dem Kinde für alles was es vom Hunde weiß, ist ihm das Aequivalent der ganzen Masse von Anschauungen, welche es von ihm hat. Also Wau- wau liegt, erhebt sich, geht, ist bald schwarz, bald weiß — denn zunächst weiß das Kind nicht, daß der schwarze ein anderer ist, als der weiße —; das Kind sieht dann auch mehrere Wau- waus, große und kleine, schwarze und weiße beisammen. Und auf alle diese verschiedenen Anschauungen bezieht sich sein Wau- wau. Haben wir hier nicht schon die Einheit in der Verschie- denheit? Nun wird Wauwau ein fester Punkt, eine Einheit, an welche sich die bemerkten Verschiedenheiten anreihen; d. h. Wauwau wird Subject, und die veränderlichen Merkmale wer- den Prädicat. Wenn in der Anschauung die Summe der em- pfundenen Merkmale gewissermaßen das Prädicat des Dinges, des wirklichen Objects sind, welches als Subject gilt: so ist auf der ersten Stufe der Vorstellung nur der Unterschied eingetre- ten, daß sämmtliche Wahrnehmungen am Dinge, also z. B. am Hunde, durch das eine Prädicat wauwau ersetzt werden. Jetzt aber sahen wir die zweite Stufe eintreten, wo Wauwau zum Subjecte der veränderlichen Merkmale wird, welche als Prädicate gelten. Nun erst erhält Wauwau die Bedeutung des Hundes an sich, der Substanz, des Dinges, und das Ding wird von seinen Thätigkeiten und Eigenschaften geschieden. Die Wahrnehmun- gen dieser veränderlichen Eigenschaften und Thätigkeiten sind es jetzt, welche das Interesse des kindlichen Geistes erregen und sich in Lauten reflectiren. Der Urmensch, kräftiger, als das

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/365>, abgerufen am 27.04.2024.