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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Sin
werden. Man muß auch gewiß seyn, daß der,
welcher das Sinnbild sieht, es verstehe.

Ueber die Aehnlichkeit haben wir bereits hinläng-
lich gesprochen (*); die allgemeine Bedeutung ver-
ständlich zu machen, ist eine Sache von großer
Schwierigkeit. Wo man sich der Schrift bedienen
kann, wie auf Münzen, Kupferstichen und bey an-
dern Werken, da fallen die meisten Schwierigkeiten
weg; weil oft ein einziges Wort hinlänglich ist, die
Deutung anzuzeigen. (*) Wo dieses sich nicht schi-
ket, da hat die Sache große Schwierigkeit. Die
Allegorie, wenn sie glüklich genug erfunden ist, lei-
tet natürlicher Weise auf die Bedeutung. Doch
muß der Ort, wo sie angebracht wird, oder andre
Nebenumstände dazu behülflich seyn. Ein Gemählde,
darauf nichts, als eine Rose vorgestellt wird, kann
Niemand auf die Gedanken bringen, daß es eine
allgemeine Deutung haben soll. Aber ein Kind,
das neben einem Rosenstrauch stünd und weinte,
dabey eine Mutter, die dem Kind etwas ernstliches
sagte, würde die Vorstellung sogleich zum Sinnbild
machen. Die Deutung desselben Bildes aber kann
verschieden seyn. Es kann dienen, die Lehre zu sa-
gen; man soll nicht ohne Vorsicht nach jedem schein-
baren Guten greifen; es kann aber auch den Sinn
des französischen Sprichworts: nulle rose sans epine,
ausdrüken. Für jenen Fall schikte sich das wei-
nende Kind, mit der warnenden Mutter, um die
Bedeutung zu bestimmen; für diesen aber, müßte
man schon einen Jüngling, und einen lehrenden Phi-
losophen dazu mahlen; weil das Kind die wichtigere
Lehre noch nicht fassen kann.

Jch muß mich, da die allgemeinen Grundsäze, zu
verständlicher Deutung der Bilder, noch fehlen, mit
Beyspiehlen behelfen, um nur überhaupt begreiflich
zu machen, wie die Sache zu erhalten sey. Hieher
gehören auch ein paar Anmerkungen, die wir über
das moralische Gemählde, das im Grund auch ein
Sinnbild ist, gemacht haben. (*) Will man das
Beyspiehl zum Sinnbild erheben, so muß man su-
chen das Jndividuelle der Vorstellung, so viel mög-
lich von dem Gemählde zu entfernen; damit man
sogleich merken möge, das Bild stelle keinen beson-
dern Fall vor. Wenn z. B. die Personen gar nicht,
oder doch noch gar keiner bekannten, weder alten
[Spaltenumbruch]

Sin
noch neuen Art gekleidet sind, so giebt dieses schon
eine Vermuthung, das Bild habe eine allgemeine
Bedeutung. Und dergleichen Mittel giebt es noch
mehr; wenn nur ein Mann von Genie das Bild
behandelt. So kann bisweilen ein Zusaz irgend
einer allegorischen Person, die unter würkliche han-
delnde Personen gesezt wird, sogleich anzeigen, daß
der Mahler nicht eine Historie, sondern eine Moral
hat mahlen wollen.

Aber wir können uns hierüber nicht weiter aus-
dähnen, und wollen nur noch über den Werth der
Sinnbilder anmerken, daß es dabey gar nicht dar-
auf ankomme, daß sie hohe, oder wenig bekannte
Begriffe und Lehren ausdrüken. Die Wichtigkeit
muß hier nicht durch die Seltenheit, oder das Neue
und Hohe, sondern durch die Brauchbarkeit bestimmt
werden. Es giebt sehr gemeine, sehr leichtfaßliche
Wahrheiten und Lehren, wie z. B. die meisten sind,
die durch ganz bekannte Sprüchwörter ausgedrukt
werden; die eine weit größere Wichtigkeit und
Brauchbarkeit haben, als manche nur durch großen
Scharfsinn, oder tiefe Wissenschaft zu entdekende,
und auch schweer zu fassende Wahrheit. Wir er-
warten von den Künsten eben nicht Aufklärung des
Verstandes, sondern würksame Erinnerungen an
ganz bekannte, aber sehr nüzliche Wahrheiten; nicht
neue Begriffe, aber tägliche und lebhafte Erinnerung
der wichtigsten uns schon genug bekannten Begriffe.
Es war darum ein sehr guter Einfall den unser ge-
schikte Historienmahler Rohde hatte, gemeine
Sprüchwörter sinnbildlich zu zeichnen, wovon sein
Bruder der Kupferstecher verschiedene herausgege-
ben hat.

Sinngedicht; Epigramma.
(Dichtkunst.)

Ein kleines Gedicht, darin der Dichter merkwürdige
Personen, oder Sachen nicht umständlich, sondern
gleichsam im Vorbeygang und mit wenig Worten in
einem besonderen und seltenen Licht zeiget. Die ei-
gentliche Art dieses Gedichtes hat unser Lessung zu-
erst aus Betrachtung seines Ursprunges mit gehöri-
ger Genauigkeit bestimmt. (+) Es scheinet nämlich
aus den Aufschriften auf Denkmäler entstanden,
wenigstens dadurch veranlasset worden zu seyn. Wie

nun
(*) Art.
Aehnlich-
keit.
(*) S.
Aufschrift.
(*) S Mo-
ral; Mo-
ralisches
Gemähld.
(+) [Spaltenumbruch]
Jn seinen Anmerkungen über das Epigramm, im
ersten Theile seiner vermischten Schriften, der 1771 in
[Spaltenumbruch] Berlin herausgekommen ist.

[Spaltenumbruch]

Sin
werden. Man muß auch gewiß ſeyn, daß der,
welcher das Sinnbild ſieht, es verſtehe.

Ueber die Aehnlichkeit haben wir bereits hinlaͤng-
lich geſprochen (*); die allgemeine Bedeutung ver-
ſtaͤndlich zu machen, iſt eine Sache von großer
Schwierigkeit. Wo man ſich der Schrift bedienen
kann, wie auf Muͤnzen, Kupferſtichen und bey an-
dern Werken, da fallen die meiſten Schwierigkeiten
weg; weil oft ein einziges Wort hinlaͤnglich iſt, die
Deutung anzuzeigen. (*) Wo dieſes ſich nicht ſchi-
ket, da hat die Sache große Schwierigkeit. Die
Allegorie, wenn ſie gluͤklich genug erfunden iſt, lei-
tet natuͤrlicher Weiſe auf die Bedeutung. Doch
muß der Ort, wo ſie angebracht wird, oder andre
Nebenumſtaͤnde dazu behuͤlflich ſeyn. Ein Gemaͤhlde,
darauf nichts, als eine Roſe vorgeſtellt wird, kann
Niemand auf die Gedanken bringen, daß es eine
allgemeine Deutung haben ſoll. Aber ein Kind,
das neben einem Roſenſtrauch ſtuͤnd und weinte,
dabey eine Mutter, die dem Kind etwas ernſtliches
ſagte, wuͤrde die Vorſtellung ſogleich zum Sinnbild
machen. Die Deutung deſſelben Bildes aber kann
verſchieden ſeyn. Es kann dienen, die Lehre zu ſa-
gen; man ſoll nicht ohne Vorſicht nach jedem ſchein-
baren Guten greifen; es kann aber auch den Sinn
des franzoͤſiſchen Sprichworts: nulle roſe ſans épine,
ausdruͤken. Fuͤr jenen Fall ſchikte ſich das wei-
nende Kind, mit der warnenden Mutter, um die
Bedeutung zu beſtimmen; fuͤr dieſen aber, muͤßte
man ſchon einen Juͤngling, und einen lehrenden Phi-
loſophen dazu mahlen; weil das Kind die wichtigere
Lehre noch nicht faſſen kann.

Jch muß mich, da die allgemeinen Grundſaͤze, zu
verſtaͤndlicher Deutung der Bilder, noch fehlen, mit
Beyſpiehlen behelfen, um nur uͤberhaupt begreiflich
zu machen, wie die Sache zu erhalten ſey. Hieher
gehoͤren auch ein paar Anmerkungen, die wir uͤber
das moraliſche Gemaͤhlde, das im Grund auch ein
Sinnbild iſt, gemacht haben. (*) Will man das
Beyſpiehl zum Sinnbild erheben, ſo muß man ſu-
chen das Jndividuelle der Vorſtellung, ſo viel moͤg-
lich von dem Gemaͤhlde zu entfernen; damit man
ſogleich merken moͤge, das Bild ſtelle keinen beſon-
dern Fall vor. Wenn z. B. die Perſonen gar nicht,
oder doch noch gar keiner bekannten, weder alten
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Sin
noch neuen Art gekleidet ſind, ſo giebt dieſes ſchon
eine Vermuthung, das Bild habe eine allgemeine
Bedeutung. Und dergleichen Mittel giebt es noch
mehr; wenn nur ein Mann von Genie das Bild
behandelt. So kann bisweilen ein Zuſaz irgend
einer allegoriſchen Perſon, die unter wuͤrkliche han-
delnde Perſonen geſezt wird, ſogleich anzeigen, daß
der Mahler nicht eine Hiſtorie, ſondern eine Moral
hat mahlen wollen.

Aber wir koͤnnen uns hieruͤber nicht weiter aus-
daͤhnen, und wollen nur noch uͤber den Werth der
Sinnbilder anmerken, daß es dabey gar nicht dar-
auf ankomme, daß ſie hohe, oder wenig bekannte
Begriffe und Lehren ausdruͤken. Die Wichtigkeit
muß hier nicht durch die Seltenheit, oder das Neue
und Hohe, ſondern durch die Brauchbarkeit beſtimmt
werden. Es giebt ſehr gemeine, ſehr leichtfaßliche
Wahrheiten und Lehren, wie z. B. die meiſten ſind,
die durch ganz bekannte Spruͤchwoͤrter ausgedrukt
werden; die eine weit groͤßere Wichtigkeit und
Brauchbarkeit haben, als manche nur durch großen
Scharfſinn, oder tiefe Wiſſenſchaft zu entdekende,
und auch ſchweer zu faſſende Wahrheit. Wir er-
warten von den Kuͤnſten eben nicht Aufklaͤrung des
Verſtandes, ſondern wuͤrkſame Erinnerungen an
ganz bekannte, aber ſehr nuͤzliche Wahrheiten; nicht
neue Begriffe, aber taͤgliche und lebhafte Erinnerung
der wichtigſten uns ſchon genug bekannten Begriffe.
Es war darum ein ſehr guter Einfall den unſer ge-
ſchikte Hiſtorienmahler Rohde hatte, gemeine
Spruͤchwoͤrter ſinnbildlich zu zeichnen, wovon ſein
Bruder der Kupferſtecher verſchiedene herausgege-
ben hat.

Sinngedicht; Epigramma.
(Dichtkunſt.)

Ein kleines Gedicht, darin der Dichter merkwuͤrdige
Perſonen, oder Sachen nicht umſtaͤndlich, ſondern
gleichſam im Vorbeygang und mit wenig Worten in
einem beſonderen und ſeltenen Licht zeiget. Die ei-
gentliche Art dieſes Gedichtes hat unſer Leſſung zu-
erſt aus Betrachtung ſeines Urſprunges mit gehoͤri-
ger Genauigkeit beſtimmt. (†) Es ſcheinet naͤmlich
aus den Aufſchriften auf Denkmaͤler entſtanden,
wenigſtens dadurch veranlaſſet worden zu ſeyn. Wie

nun
(*) Art.
Aehnlich-
keit.
(*) S.
Aufſchrift.
(*) S Mo-
ral; Mo-
raliſches
Gemaͤhld.
(†) [Spaltenumbruch]
Jn ſeinen Anmerkungen uͤber das Epigramm, im
erſten Theile ſeiner vermiſchten Schriften, der 1771 in
[Spaltenumbruch] Berlin herausgekommen iſt.
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[1081[1063]/0510] Sin Sin werden. Man muß auch gewiß ſeyn, daß der, welcher das Sinnbild ſieht, es verſtehe. Ueber die Aehnlichkeit haben wir bereits hinlaͤng- lich geſprochen (*); die allgemeine Bedeutung ver- ſtaͤndlich zu machen, iſt eine Sache von großer Schwierigkeit. Wo man ſich der Schrift bedienen kann, wie auf Muͤnzen, Kupferſtichen und bey an- dern Werken, da fallen die meiſten Schwierigkeiten weg; weil oft ein einziges Wort hinlaͤnglich iſt, die Deutung anzuzeigen. (*) Wo dieſes ſich nicht ſchi- ket, da hat die Sache große Schwierigkeit. Die Allegorie, wenn ſie gluͤklich genug erfunden iſt, lei- tet natuͤrlicher Weiſe auf die Bedeutung. Doch muß der Ort, wo ſie angebracht wird, oder andre Nebenumſtaͤnde dazu behuͤlflich ſeyn. Ein Gemaͤhlde, darauf nichts, als eine Roſe vorgeſtellt wird, kann Niemand auf die Gedanken bringen, daß es eine allgemeine Deutung haben ſoll. Aber ein Kind, das neben einem Roſenſtrauch ſtuͤnd und weinte, dabey eine Mutter, die dem Kind etwas ernſtliches ſagte, wuͤrde die Vorſtellung ſogleich zum Sinnbild machen. Die Deutung deſſelben Bildes aber kann verſchieden ſeyn. Es kann dienen, die Lehre zu ſa- gen; man ſoll nicht ohne Vorſicht nach jedem ſchein- baren Guten greifen; es kann aber auch den Sinn des franzoͤſiſchen Sprichworts: nulle roſe ſans épine, ausdruͤken. Fuͤr jenen Fall ſchikte ſich das wei- nende Kind, mit der warnenden Mutter, um die Bedeutung zu beſtimmen; fuͤr dieſen aber, muͤßte man ſchon einen Juͤngling, und einen lehrenden Phi- loſophen dazu mahlen; weil das Kind die wichtigere Lehre noch nicht faſſen kann. Jch muß mich, da die allgemeinen Grundſaͤze, zu verſtaͤndlicher Deutung der Bilder, noch fehlen, mit Beyſpiehlen behelfen, um nur uͤberhaupt begreiflich zu machen, wie die Sache zu erhalten ſey. Hieher gehoͤren auch ein paar Anmerkungen, die wir uͤber das moraliſche Gemaͤhlde, das im Grund auch ein Sinnbild iſt, gemacht haben. (*) Will man das Beyſpiehl zum Sinnbild erheben, ſo muß man ſu- chen das Jndividuelle der Vorſtellung, ſo viel moͤg- lich von dem Gemaͤhlde zu entfernen; damit man ſogleich merken moͤge, das Bild ſtelle keinen beſon- dern Fall vor. Wenn z. B. die Perſonen gar nicht, oder doch noch gar keiner bekannten, weder alten noch neuen Art gekleidet ſind, ſo giebt dieſes ſchon eine Vermuthung, das Bild habe eine allgemeine Bedeutung. Und dergleichen Mittel giebt es noch mehr; wenn nur ein Mann von Genie das Bild behandelt. So kann bisweilen ein Zuſaz irgend einer allegoriſchen Perſon, die unter wuͤrkliche han- delnde Perſonen geſezt wird, ſogleich anzeigen, daß der Mahler nicht eine Hiſtorie, ſondern eine Moral hat mahlen wollen. Aber wir koͤnnen uns hieruͤber nicht weiter aus- daͤhnen, und wollen nur noch uͤber den Werth der Sinnbilder anmerken, daß es dabey gar nicht dar- auf ankomme, daß ſie hohe, oder wenig bekannte Begriffe und Lehren ausdruͤken. Die Wichtigkeit muß hier nicht durch die Seltenheit, oder das Neue und Hohe, ſondern durch die Brauchbarkeit beſtimmt werden. Es giebt ſehr gemeine, ſehr leichtfaßliche Wahrheiten und Lehren, wie z. B. die meiſten ſind, die durch ganz bekannte Spruͤchwoͤrter ausgedrukt werden; die eine weit groͤßere Wichtigkeit und Brauchbarkeit haben, als manche nur durch großen Scharfſinn, oder tiefe Wiſſenſchaft zu entdekende, und auch ſchweer zu faſſende Wahrheit. Wir er- warten von den Kuͤnſten eben nicht Aufklaͤrung des Verſtandes, ſondern wuͤrkſame Erinnerungen an ganz bekannte, aber ſehr nuͤzliche Wahrheiten; nicht neue Begriffe, aber taͤgliche und lebhafte Erinnerung der wichtigſten uns ſchon genug bekannten Begriffe. Es war darum ein ſehr guter Einfall den unſer ge- ſchikte Hiſtorienmahler Rohde hatte, gemeine Spruͤchwoͤrter ſinnbildlich zu zeichnen, wovon ſein Bruder der Kupferſtecher verſchiedene herausgege- ben hat. Sinngedicht; Epigramma. (Dichtkunſt.) Ein kleines Gedicht, darin der Dichter merkwuͤrdige Perſonen, oder Sachen nicht umſtaͤndlich, ſondern gleichſam im Vorbeygang und mit wenig Worten in einem beſonderen und ſeltenen Licht zeiget. Die ei- gentliche Art dieſes Gedichtes hat unſer Leſſung zu- erſt aus Betrachtung ſeines Urſprunges mit gehoͤri- ger Genauigkeit beſtimmt. (†) Es ſcheinet naͤmlich aus den Aufſchriften auf Denkmaͤler entſtanden, wenigſtens dadurch veranlaſſet worden zu ſeyn. Wie nun (*) Art. Aehnlich- keit. (*) S. Aufſchrift. (*) S Mo- ral; Mo- raliſches Gemaͤhld. (†) Jn ſeinen Anmerkungen uͤber das Epigramm, im erſten Theile ſeiner vermiſchten Schriften, der 1771 in Berlin herausgekommen iſt.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1081[1063]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/510>, abgerufen am 29.04.2024.