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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
vor Augen lieget, der halte sich nicht berufen darzu, von
dem Charakter desselben, und insbesondere von seinem
Einfluß auf die Seelennatur, etwas mehr als höchstens
einen Schattenriß zu machen.

5.

Wird die natürliche Entwickelung der künstli-
chen,
oder der Schulentwickelung, so entgegengesetzt,
daß unter jener alles begriffen wird, was durch die äus-
sern physischen Umstände und durch die von selbst wirken-
de Nachbildungskraft, in der Gesellschaft und im Um-
gang mit Menschen, bewirkt wird, die letztere dagegen
nur die Wirkungen des Unterrichts und der geflissent-
lichen Uebung in sich fasset: so lassen sich über das Ver-
hältniß dieser beiden manche Vemerkungen machen, die
erwogen zu werden verdienen. Davon will ich nur eine
anführen. Aber ich verstehe, wie gesagt, alsdenn unter
der Erziehung nichts mehr, als was gemeiniglich darun-
ter begriffen wird. Wenn diese bis auf die physische
Erziehung ausgedehnet wird, und sich nach den Vor-
schriften des Hrn. Verdier aller äußern Ursachen bemei-
stern und sie nach Absicht und Plan zur Wirksamkeit
bringen kann, so wird auch ihre Wirkung vergrößert.

"Die absolute Größe, zu der die Seelenvermö-
"gen gelangen, ist mehr die Wirkung von der natürli-
"chen Ausbildung, als von dem Unterricht und der re-
"gelmäßigen Uebung. Dagegen die relativen Ver-
"mögen
und Fertigkeiten, die Kraft auf diese oder je-
"ne Gegenstände schicklich anzuwenden, mehr eine Wir-
"kung des Fleißes und der eigentlichen Erziehung sind."
Die Sinne erreichen ihre Stärke und ihren Umfang bey
den Kindern von selbst durch eine eigenmächtige, fast ab-
sichtslose, Anwendung der innern Vermögen auf die em-
pfundenen Gegenstände. Der Maler siehet zwar ein
Gemälde schärfer an, und ein Tonkünstler höret und

bemerket
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und Entwickelung des Menſchen.
vor Augen lieget, der halte ſich nicht berufen darzu, von
dem Charakter deſſelben, und insbeſondere von ſeinem
Einfluß auf die Seelennatur, etwas mehr als hoͤchſtens
einen Schattenriß zu machen.

5.

Wird die natuͤrliche Entwickelung der kuͤnſtli-
chen,
oder der Schulentwickelung, ſo entgegengeſetzt,
daß unter jener alles begriffen wird, was durch die aͤuſ-
ſern phyſiſchen Umſtaͤnde und durch die von ſelbſt wirken-
de Nachbildungskraft, in der Geſellſchaft und im Um-
gang mit Menſchen, bewirkt wird, die letztere dagegen
nur die Wirkungen des Unterrichts und der gefliſſent-
lichen Uebung in ſich faſſet: ſo laſſen ſich uͤber das Ver-
haͤltniß dieſer beiden manche Vemerkungen machen, die
erwogen zu werden verdienen. Davon will ich nur eine
anfuͤhren. Aber ich verſtehe, wie geſagt, alsdenn unter
der Erziehung nichts mehr, als was gemeiniglich darun-
ter begriffen wird. Wenn dieſe bis auf die phyſiſche
Erziehung ausgedehnet wird, und ſich nach den Vor-
ſchriften des Hrn. Verdier aller aͤußern Urſachen bemei-
ſtern und ſie nach Abſicht und Plan zur Wirkſamkeit
bringen kann, ſo wird auch ihre Wirkung vergroͤßert.

„Die abſolute Groͤße, zu der die Seelenvermoͤ-
„gen gelangen, iſt mehr die Wirkung von der natuͤrli-
„chen Ausbildung, als von dem Unterricht und der re-
„gelmaͤßigen Uebung. Dagegen die relativen Ver-
„moͤgen
und Fertigkeiten, die Kraft auf dieſe oder je-
„ne Gegenſtaͤnde ſchicklich anzuwenden, mehr eine Wir-
„kung des Fleißes und der eigentlichen Erziehung ſind.‟
Die Sinne erreichen ihre Staͤrke und ihren Umfang bey
den Kindern von ſelbſt durch eine eigenmaͤchtige, faſt ab-
ſichtsloſe, Anwendung der innern Vermoͤgen auf die em-
pfundenen Gegenſtaͤnde. Der Maler ſiehet zwar ein
Gemaͤlde ſchaͤrfer an, und ein Tonkuͤnſtler hoͤret und

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[601/0631] und Entwickelung des Menſchen. vor Augen lieget, der halte ſich nicht berufen darzu, von dem Charakter deſſelben, und insbeſondere von ſeinem Einfluß auf die Seelennatur, etwas mehr als hoͤchſtens einen Schattenriß zu machen. 5. Wird die natuͤrliche Entwickelung der kuͤnſtli- chen, oder der Schulentwickelung, ſo entgegengeſetzt, daß unter jener alles begriffen wird, was durch die aͤuſ- ſern phyſiſchen Umſtaͤnde und durch die von ſelbſt wirken- de Nachbildungskraft, in der Geſellſchaft und im Um- gang mit Menſchen, bewirkt wird, die letztere dagegen nur die Wirkungen des Unterrichts und der gefliſſent- lichen Uebung in ſich faſſet: ſo laſſen ſich uͤber das Ver- haͤltniß dieſer beiden manche Vemerkungen machen, die erwogen zu werden verdienen. Davon will ich nur eine anfuͤhren. Aber ich verſtehe, wie geſagt, alsdenn unter der Erziehung nichts mehr, als was gemeiniglich darun- ter begriffen wird. Wenn dieſe bis auf die phyſiſche Erziehung ausgedehnet wird, und ſich nach den Vor- ſchriften des Hrn. Verdier aller aͤußern Urſachen bemei- ſtern und ſie nach Abſicht und Plan zur Wirkſamkeit bringen kann, ſo wird auch ihre Wirkung vergroͤßert. „Die abſolute Groͤße, zu der die Seelenvermoͤ- „gen gelangen, iſt mehr die Wirkung von der natuͤrli- „chen Ausbildung, als von dem Unterricht und der re- „gelmaͤßigen Uebung. Dagegen die relativen Ver- „moͤgen und Fertigkeiten, die Kraft auf dieſe oder je- „ne Gegenſtaͤnde ſchicklich anzuwenden, mehr eine Wir- „kung des Fleißes und der eigentlichen Erziehung ſind.‟ Die Sinne erreichen ihre Staͤrke und ihren Umfang bey den Kindern von ſelbſt durch eine eigenmaͤchtige, faſt ab- ſichtsloſe, Anwendung der innern Vermoͤgen auf die em- pfundenen Gegenſtaͤnde. Der Maler ſiehet zwar ein Gemaͤlde ſchaͤrfer an, und ein Tonkuͤnſtler hoͤret und bemerket P p 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/631>, abgerufen am 30.04.2024.