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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
mit diesem sey, oder eine Folge davon, oder nur eine
einseitige Vorstellung ihres Gegenstandes, das ist vor-
her zu untersuchen, ehe man es bey ihr bewenden lässet.
Und dieß gründlich zu untersuchen, heißt so viel, als die
ganze Beziehung der Freyheit auf das Vermögen deut-
liche Vorstellungen zu haben, aufzusuchen. Mögen
doch die leidenden, afficirenden und bewegenden Vorstel-
lungen bis zum höchsten Grade entwickelt seyn; folget es,
daß, wenn sie die Thätigkeitskraft bestimmen, sie sol-
che nicht eben so hinreißend und mächtig bestimmen kön-
nen, als eine stärkere Empfindung, oder eine sinnlich
verwirrte Vorstellung unsrer gröbern Sinne? Können
nicht die entwickeltsten Jdeen so überwältigend seyn, daß
alles Widerstehen unmöglich wird? Aber die von
Wolfen so sorgfältig aufgesuchten Beobachtungen leh-
ren uns eine Verbindung zwischen der Vernunft und
Freyheit kennen, die näher betrachtet zu werden ver-
dient.

3.

Erstlich ist es gewiß "daß jede Handlung ei-
"ne freye Handlung ist,
zu der unsere Kraft durch
"deutliche Vorstellungen von der Handlung und von
"dem Objekt, und von dessen Beziehungen auf uns, be-
"stimmt und geleitet wird." Diese Regel ist ohne
Ausnahme, wenn sie gehörig verstanden wird. Jede
Vorstellung, die wir deutlich nennen, ist es nur von
Einer Seite, in Hinsicht einiger Züge in ihr, welche
auseinander gesetzt sind, und von uns unterschieden
werden; aber das Ganze derselben ist verwirrt und un-
deutlich, wie in den Gemälden. Eine deutliche Vor-
stellung, die es nur in einigen Zügen ist, kann, in so
fern sie als ein verwirrtes und undeutliches Bild auf
die Seelenkraft wirket, zwingend seyn. Aber je mehr
sie deutlich ist, und in der Maße, wie sie es ist, lässet

sie

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mit dieſem ſey, oder eine Folge davon, oder nur eine
einſeitige Vorſtellung ihres Gegenſtandes, das iſt vor-
her zu unterſuchen, ehe man es bey ihr bewenden laͤſſet.
Und dieß gruͤndlich zu unterſuchen, heißt ſo viel, als die
ganze Beziehung der Freyheit auf das Vermoͤgen deut-
liche Vorſtellungen zu haben, aufzuſuchen. Moͤgen
doch die leidenden, afficirenden und bewegenden Vorſtel-
lungen bis zum hoͤchſten Grade entwickelt ſeyn; folget es,
daß, wenn ſie die Thaͤtigkeitskraft beſtimmen, ſie ſol-
che nicht eben ſo hinreißend und maͤchtig beſtimmen koͤn-
nen, als eine ſtaͤrkere Empfindung, oder eine ſinnlich
verwirrte Vorſtellung unſrer groͤbern Sinne? Koͤnnen
nicht die entwickeltſten Jdeen ſo uͤberwaͤltigend ſeyn, daß
alles Widerſtehen unmoͤglich wird? Aber die von
Wolfen ſo ſorgfaͤltig aufgeſuchten Beobachtungen leh-
ren uns eine Verbindung zwiſchen der Vernunft und
Freyheit kennen, die naͤher betrachtet zu werden ver-
dient.

3.

Erſtlich iſt es gewiß „daß jede Handlung ei-
„ne freye Handlung iſt,
zu der unſere Kraft durch
„deutliche Vorſtellungen von der Handlung und von
„dem Objekt, und von deſſen Beziehungen auf uns, be-
„ſtimmt und geleitet wird.“ Dieſe Regel iſt ohne
Ausnahme, wenn ſie gehoͤrig verſtanden wird. Jede
Vorſtellung, die wir deutlich nennen, iſt es nur von
Einer Seite, in Hinſicht einiger Zuͤge in ihr, welche
auseinander geſetzt ſind, und von uns unterſchieden
werden; aber das Ganze derſelben iſt verwirrt und un-
deutlich, wie in den Gemaͤlden. Eine deutliche Vor-
ſtellung, die es nur in einigen Zuͤgen iſt, kann, in ſo
fern ſie als ein verwirrtes und undeutliches Bild auf
die Seelenkraft wirket, zwingend ſeyn. Aber je mehr
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ſie
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[34/0064] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit mit dieſem ſey, oder eine Folge davon, oder nur eine einſeitige Vorſtellung ihres Gegenſtandes, das iſt vor- her zu unterſuchen, ehe man es bey ihr bewenden laͤſſet. Und dieß gruͤndlich zu unterſuchen, heißt ſo viel, als die ganze Beziehung der Freyheit auf das Vermoͤgen deut- liche Vorſtellungen zu haben, aufzuſuchen. Moͤgen doch die leidenden, afficirenden und bewegenden Vorſtel- lungen bis zum hoͤchſten Grade entwickelt ſeyn; folget es, daß, wenn ſie die Thaͤtigkeitskraft beſtimmen, ſie ſol- che nicht eben ſo hinreißend und maͤchtig beſtimmen koͤn- nen, als eine ſtaͤrkere Empfindung, oder eine ſinnlich verwirrte Vorſtellung unſrer groͤbern Sinne? Koͤnnen nicht die entwickeltſten Jdeen ſo uͤberwaͤltigend ſeyn, daß alles Widerſtehen unmoͤglich wird? Aber die von Wolfen ſo ſorgfaͤltig aufgeſuchten Beobachtungen leh- ren uns eine Verbindung zwiſchen der Vernunft und Freyheit kennen, die naͤher betrachtet zu werden ver- dient. 3. Erſtlich iſt es gewiß „daß jede Handlung ei- „ne freye Handlung iſt, zu der unſere Kraft durch „deutliche Vorſtellungen von der Handlung und von „dem Objekt, und von deſſen Beziehungen auf uns, be- „ſtimmt und geleitet wird.“ Dieſe Regel iſt ohne Ausnahme, wenn ſie gehoͤrig verſtanden wird. Jede Vorſtellung, die wir deutlich nennen, iſt es nur von Einer Seite, in Hinſicht einiger Zuͤge in ihr, welche auseinander geſetzt ſind, und von uns unterſchieden werden; aber das Ganze derſelben iſt verwirrt und un- deutlich, wie in den Gemaͤlden. Eine deutliche Vor- ſtellung, die es nur in einigen Zuͤgen iſt, kann, in ſo fern ſie als ein verwirrtes und undeutliches Bild auf die Seelenkraft wirket, zwingend ſeyn. Aber je mehr ſie deutlich iſt, und in der Maße, wie ſie es iſt, laͤſſet ſie

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/64>, abgerufen am 30.04.2024.