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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
ter nachgeht, kann sie sich am vorzüglichsten mit der
Thätigkeitskraft oder der sich selbst modificirenden See-
lenkraft, das ist, mit dem Willen in der Bedeutung,
worinn dieser dem Gefühl und der Erkenntnißkraft ent-
gegengesetzt wird, vereinigen. Alsdenn gebieret sie
die Stärke und Thätigkeit in Handlungen, die man
thätigen Personen zuschreibet. Die Empfindsam-
keit,
die Lebhaftigkeit, die Verständigkeit und die
überlegende Thätigkeit sind gleichsam die Kardinal-
punkte in der kultivirten Menschheit.

2.

Von dieser Seite die Menschheit betrachtet, inso-
ferne auf die Größe der höhern Seelenkräfte Rücksicht
genommen wird, giebt es eine gewisse Stufenleiter in
ihr. Der bloß auf Empfindungen eingeschränkte
Mensch stehet auf der niedrigsten Staffel. Er ist der
sinnlichste Mensch, bey dem der natürliche Vorzug der
menschlichen Natur am wenigsten entwickelt ist. Da-
gegen die erhabenen Menschen, deren Gefühl verfeinert,
deren vorstellende, denkende und handelnde Kraft lebhaft
wirksam ist, und die dennoch Seelengröße besitzen sich
selbst und ihre Leidenschaften zu beherrschen, die oberste
Stufe einnehmen. Das Eigene der Menschheit bestehet
in Selbstthätigkeit der Seele, die in der feinen Ver-
nunft und in der Selbstmacht über sich am stärksten
entwickelt ist. Gleichwohl verhält es sich mit dieser
Stufenleiter, wie mit den Stufenleitern der natürlichen
Dinge überhaupt. Es ist ein Verhältniß der Dinge
aufeinander, das nur bloß insofern für eine Unterord-
nung
gehalten werden kann, als man die Objekte von
einer Seite und in einer gewissen Rücksicht betrachtet.
Macht man die Stufen nach dem Mehr oder Weni-
ger an Selbstthätigkeit
der Seele, und soll die
Größe dieser Selbstthätigkeit das Maß der menschlichen

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und Entwickelung des Menſchen.
ter nachgeht, kann ſie ſich am vorzuͤglichſten mit der
Thaͤtigkeitskraft oder der ſich ſelbſt modificirenden See-
lenkraft, das iſt, mit dem Willen in der Bedeutung,
worinn dieſer dem Gefuͤhl und der Erkenntnißkraft ent-
gegengeſetzt wird, vereinigen. Alsdenn gebieret ſie
die Staͤrke und Thaͤtigkeit in Handlungen, die man
thaͤtigen Perſonen zuſchreibet. Die Empfindſam-
keit,
die Lebhaftigkeit, die Verſtaͤndigkeit und die
uͤberlegende Thaͤtigkeit ſind gleichſam die Kardinal-
punkte in der kultivirten Menſchheit.

2.

Von dieſer Seite die Menſchheit betrachtet, inſo-
ferne auf die Groͤße der hoͤhern Seelenkraͤfte Ruͤckſicht
genommen wird, giebt es eine gewiſſe Stufenleiter in
ihr. Der bloß auf Empfindungen eingeſchraͤnkte
Menſch ſtehet auf der niedrigſten Staffel. Er iſt der
ſinnlichſte Menſch, bey dem der natuͤrliche Vorzug der
menſchlichen Natur am wenigſten entwickelt iſt. Da-
gegen die erhabenen Menſchen, deren Gefuͤhl verfeinert,
deren vorſtellende, denkende und handelnde Kraft lebhaft
wirkſam iſt, und die dennoch Seelengroͤße beſitzen ſich
ſelbſt und ihre Leidenſchaften zu beherrſchen, die oberſte
Stufe einnehmen. Das Eigene der Menſchheit beſtehet
in Selbſtthaͤtigkeit der Seele, die in der feinen Ver-
nunft und in der Selbſtmacht uͤber ſich am ſtaͤrkſten
entwickelt iſt. Gleichwohl verhaͤlt es ſich mit dieſer
Stufenleiter, wie mit den Stufenleitern der natuͤrlichen
Dinge uͤberhaupt. Es iſt ein Verhaͤltniß der Dinge
aufeinander, das nur bloß inſofern fuͤr eine Unterord-
nung
gehalten werden kann, als man die Objekte von
einer Seite und in einer gewiſſen Ruͤckſicht betrachtet.
Macht man die Stufen nach dem Mehr oder Weni-
ger an Selbſtthaͤtigkeit
der Seele, und ſoll die
Groͤße dieſer Selbſtthaͤtigkeit das Maß der menſchlichen

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[615/0645] und Entwickelung des Menſchen. ter nachgeht, kann ſie ſich am vorzuͤglichſten mit der Thaͤtigkeitskraft oder der ſich ſelbſt modificirenden See- lenkraft, das iſt, mit dem Willen in der Bedeutung, worinn dieſer dem Gefuͤhl und der Erkenntnißkraft ent- gegengeſetzt wird, vereinigen. Alsdenn gebieret ſie die Staͤrke und Thaͤtigkeit in Handlungen, die man thaͤtigen Perſonen zuſchreibet. Die Empfindſam- keit, die Lebhaftigkeit, die Verſtaͤndigkeit und die uͤberlegende Thaͤtigkeit ſind gleichſam die Kardinal- punkte in der kultivirten Menſchheit. 2. Von dieſer Seite die Menſchheit betrachtet, inſo- ferne auf die Groͤße der hoͤhern Seelenkraͤfte Ruͤckſicht genommen wird, giebt es eine gewiſſe Stufenleiter in ihr. Der bloß auf Empfindungen eingeſchraͤnkte Menſch ſtehet auf der niedrigſten Staffel. Er iſt der ſinnlichſte Menſch, bey dem der natuͤrliche Vorzug der menſchlichen Natur am wenigſten entwickelt iſt. Da- gegen die erhabenen Menſchen, deren Gefuͤhl verfeinert, deren vorſtellende, denkende und handelnde Kraft lebhaft wirkſam iſt, und die dennoch Seelengroͤße beſitzen ſich ſelbſt und ihre Leidenſchaften zu beherrſchen, die oberſte Stufe einnehmen. Das Eigene der Menſchheit beſtehet in Selbſtthaͤtigkeit der Seele, die in der feinen Ver- nunft und in der Selbſtmacht uͤber ſich am ſtaͤrkſten entwickelt iſt. Gleichwohl verhaͤlt es ſich mit dieſer Stufenleiter, wie mit den Stufenleitern der natuͤrlichen Dinge uͤberhaupt. Es iſt ein Verhaͤltniß der Dinge aufeinander, das nur bloß inſofern fuͤr eine Unterord- nung gehalten werden kann, als man die Objekte von einer Seite und in einer gewiſſen Ruͤckſicht betrachtet. Macht man die Stufen nach dem Mehr oder Weni- ger an Selbſtthaͤtigkeit der Seele, und ſoll die Groͤße dieſer Selbſtthaͤtigkeit das Maß der menſchlichen Vollkom- Q q 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/645>, abgerufen am 30.04.2024.