Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 27te Februar.
Du zählst, wie oft ein Christe wein,
Und was sein Kummer sey;
Kein Zähr- und Thränlein ist so klein,
Du hebst und legst es bei.


So flossen denn auch heut die gezählte Thränen, wie ein
Strom aus den Augen der Sterblichen. Ein heiliger
Strom, wenn nicht so viele unheilige Thränen hineinstürzten und
ihn trübten! Nur unsre Geburt, Krankheit, Sünden und die
Noth andrer erlauben uns zu weinen. Das aber heißt den hohen
Werth der Thränen nicht kennen, wenn man sie ohne Noth ver-
gießt, oder an irdische Schätze verwendet. Der Säugling weine,
denn er soll seinen Eltern den Sündenfall damit erklären: weinet
aber die Mutter mit, weil ihr ein Kleid, Schlaf, ein guter Tag,
ein nachgebender Ehegatte fehlt: so sind ihre Zähren weit kindi-
scher als des Säuglings. Nur wenig Erwachsene weinen dem
Himmel angenehm.

Er, der allein die Sterne zählt, welche sind und noch wer-
den sollen, zählt auch, (erheb dich o Mensch!) alle deine Thrä-
nen, von der ersten, welche deine Mutter aufküßte, bis zur letz-
ten, welche mit dem Todesschweisse zusammen fliessen wird. Er
zählte aber auch, (glüh für Scham, o Thor!) alle Thränen,
die du ohne Noth verschwendetest. Dis Kapital, welches Gott
nur dem Menschen anvertrauete, um ihm auch dadurch einen
Vorzug vor Thieren zu geben, muß behutsam angelegt werden,
wenn es Zinsen in der Ewigkeit tragen soll. Verschleudern wir
es aber für Güter der Erde: nun so verschluckt die Erde diesen
Schatz, und wir haben von unsern Thränen nach dem Tode --
nichts, wo nicht gar noch Verantwortung. Es ist schön, wenn
das Herz weich ist, und leicht überfliessen kan: aber es gibt auch

eine
H 4


Der 27te Februar.
Du zaͤhlſt, wie oft ein Chriſte wein,
Und was ſein Kummer ſey;
Kein Zaͤhr- und Thraͤnlein iſt ſo klein,
Du hebſt und legſt es bei.


So floſſen denn auch heut die gezaͤhlte Thraͤnen, wie ein
Strom aus den Augen der Sterblichen. Ein heiliger
Strom, wenn nicht ſo viele unheilige Thraͤnen hineinſtuͤrzten und
ihn truͤbten! Nur unſre Geburt, Krankheit, Suͤnden und die
Noth andrer erlauben uns zu weinen. Das aber heißt den hohen
Werth der Thraͤnen nicht kennen, wenn man ſie ohne Noth ver-
gießt, oder an irdiſche Schaͤtze verwendet. Der Saͤugling weine,
denn er ſoll ſeinen Eltern den Suͤndenfall damit erklaͤren: weinet
aber die Mutter mit, weil ihr ein Kleid, Schlaf, ein guter Tag,
ein nachgebender Ehegatte fehlt: ſo ſind ihre Zaͤhren weit kindi-
ſcher als des Saͤuglings. Nur wenig Erwachſene weinen dem
Himmel angenehm.

Er, der allein die Sterne zaͤhlt, welche ſind und noch wer-
den ſollen, zaͤhlt auch, (erheb dich o Menſch!) alle deine Thraͤ-
nen, von der erſten, welche deine Mutter aufkuͤßte, bis zur letz-
ten, welche mit dem Todesſchweiſſe zuſammen flieſſen wird. Er
zaͤhlte aber auch, (gluͤh fuͤr Scham, o Thor!) alle Thraͤnen,
die du ohne Noth verſchwendeteſt. Dis Kapital, welches Gott
nur dem Menſchen anvertrauete, um ihm auch dadurch einen
Vorzug vor Thieren zu geben, muß behutſam angelegt werden,
wenn es Zinſen in der Ewigkeit tragen ſoll. Verſchleudern wir
es aber fuͤr Guͤter der Erde: nun ſo verſchluckt die Erde dieſen
Schatz, und wir haben von unſern Thraͤnen nach dem Tode —
nichts, wo nicht gar noch Verantwortung. Es iſt ſchoͤn, wenn
das Herz weich iſt, und leicht uͤberflieſſen kan: aber es gibt auch

eine
H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0156" n="119[149]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 27<hi rendition="#sup">te</hi> Februar.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">D</hi>u za&#x0364;hl&#x017F;t, wie oft ein Chri&#x017F;te wein,</l><lb/>
              <l>Und was &#x017F;ein Kummer &#x017F;ey;</l><lb/>
              <l>Kein Za&#x0364;hr- und Thra&#x0364;nlein i&#x017F;t &#x017F;o klein,</l><lb/>
              <l>Du heb&#x017F;t und leg&#x017F;t es bei.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">S</hi>o flo&#x017F;&#x017F;en denn auch heut <hi rendition="#fr">die geza&#x0364;hlte Thra&#x0364;nen,</hi> wie ein<lb/>
Strom aus den Augen der Sterblichen. Ein heiliger<lb/>
Strom, wenn nicht &#x017F;o viele unheilige Thra&#x0364;nen hinein&#x017F;tu&#x0364;rzten und<lb/>
ihn tru&#x0364;bten! Nur un&#x017F;re Geburt, Krankheit, Su&#x0364;nden und die<lb/>
Noth andrer erlauben uns zu weinen. Das aber heißt den hohen<lb/>
Werth der Thra&#x0364;nen nicht kennen, wenn man &#x017F;ie ohne Noth ver-<lb/>
gießt, oder an irdi&#x017F;che Scha&#x0364;tze verwendet. Der Sa&#x0364;ugling weine,<lb/>
denn er &#x017F;oll &#x017F;einen Eltern den Su&#x0364;ndenfall damit erkla&#x0364;ren: weinet<lb/>
aber die Mutter mit, weil ihr ein Kleid, Schlaf, ein guter Tag,<lb/>
ein nachgebender Ehegatte fehlt: &#x017F;o &#x017F;ind ihre Za&#x0364;hren weit kindi-<lb/>
&#x017F;cher als des Sa&#x0364;uglings. Nur wenig Erwach&#x017F;ene weinen dem<lb/>
Himmel angenehm.</p><lb/>
            <p>Er, der allein die Sterne za&#x0364;hlt, welche &#x017F;ind und noch wer-<lb/>
den &#x017F;ollen, za&#x0364;hlt auch, (erheb dich o Men&#x017F;ch!) alle deine Thra&#x0364;-<lb/>
nen, von der er&#x017F;ten, welche deine Mutter aufku&#x0364;ßte, bis zur letz-<lb/>
ten, welche mit dem Todes&#x017F;chwei&#x017F;&#x017F;e zu&#x017F;ammen flie&#x017F;&#x017F;en wird. Er<lb/>
za&#x0364;hlte aber auch, (glu&#x0364;h fu&#x0364;r Scham, o Thor!) alle Thra&#x0364;nen,<lb/>
die du ohne Noth ver&#x017F;chwendete&#x017F;t. Dis Kapital, welches Gott<lb/>
nur dem Men&#x017F;chen anvertrauete, um ihm auch dadurch einen<lb/>
Vorzug vor Thieren zu geben, muß behut&#x017F;am angelegt werden,<lb/>
wenn es Zin&#x017F;en in der Ewigkeit tragen &#x017F;oll. Ver&#x017F;chleudern wir<lb/>
es aber fu&#x0364;r Gu&#x0364;ter der Erde: nun &#x017F;o ver&#x017F;chluckt die Erde die&#x017F;en<lb/>
Schatz, und wir haben von un&#x017F;ern Thra&#x0364;nen nach dem Tode &#x2014;<lb/>
nichts, wo nicht gar noch Verantwortung. Es i&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;n, wenn<lb/>
das Herz weich i&#x017F;t, und leicht u&#x0364;berflie&#x017F;&#x017F;en kan: aber es gibt auch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119[149]/0156] Der 27te Februar. Du zaͤhlſt, wie oft ein Chriſte wein, Und was ſein Kummer ſey; Kein Zaͤhr- und Thraͤnlein iſt ſo klein, Du hebſt und legſt es bei. So floſſen denn auch heut die gezaͤhlte Thraͤnen, wie ein Strom aus den Augen der Sterblichen. Ein heiliger Strom, wenn nicht ſo viele unheilige Thraͤnen hineinſtuͤrzten und ihn truͤbten! Nur unſre Geburt, Krankheit, Suͤnden und die Noth andrer erlauben uns zu weinen. Das aber heißt den hohen Werth der Thraͤnen nicht kennen, wenn man ſie ohne Noth ver- gießt, oder an irdiſche Schaͤtze verwendet. Der Saͤugling weine, denn er ſoll ſeinen Eltern den Suͤndenfall damit erklaͤren: weinet aber die Mutter mit, weil ihr ein Kleid, Schlaf, ein guter Tag, ein nachgebender Ehegatte fehlt: ſo ſind ihre Zaͤhren weit kindi- ſcher als des Saͤuglings. Nur wenig Erwachſene weinen dem Himmel angenehm. Er, der allein die Sterne zaͤhlt, welche ſind und noch wer- den ſollen, zaͤhlt auch, (erheb dich o Menſch!) alle deine Thraͤ- nen, von der erſten, welche deine Mutter aufkuͤßte, bis zur letz- ten, welche mit dem Todesſchweiſſe zuſammen flieſſen wird. Er zaͤhlte aber auch, (gluͤh fuͤr Scham, o Thor!) alle Thraͤnen, die du ohne Noth verſchwendeteſt. Dis Kapital, welches Gott nur dem Menſchen anvertrauete, um ihm auch dadurch einen Vorzug vor Thieren zu geben, muß behutſam angelegt werden, wenn es Zinſen in der Ewigkeit tragen ſoll. Verſchleudern wir es aber fuͤr Guͤter der Erde: nun ſo verſchluckt die Erde dieſen Schatz, und wir haben von unſern Thraͤnen nach dem Tode — nichts, wo nicht gar noch Verantwortung. Es iſt ſchoͤn, wenn das Herz weich iſt, und leicht uͤberflieſſen kan: aber es gibt auch eine H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/156
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 119[149]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/156>, abgerufen am 08.05.2024.