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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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und brauchbares Werkzeug, und doch keinesweges, auch nur
in der Regel, mit Bewusstheit ergriffen, sondern in gutem
Glauben an seine Richtigkeit und Zweckmässigkeit. In
England hat sich dieselbe Entwicklung bis auf den heutigen
Tag ohne römisches Recht (oder doch nur unter ver-
gleichungsweise geringen Einflüssen desselben) vollzogen,
als allmähliche Ueberschattung des gemeinen (d. i. gemein-
schaftlichen) durch das statutarische (d. i. gesellschaftliche)
Recht, oder als Sieg der Principien des personalen über
die des realen Eigenthums. Das allgemeine contractuelle
Privatrecht ist nur der andere Ausdruck des allgemeinen
contractuellen Tausch-Verkehrs und wächst mit ihm, bis es
in einem codificirten Handels-, Wechsel-, See-Recht seine am
meisten adäquate Darstellung findet, welche auf sichtliche
Weise nur zufällige und durchaus provisorische nationale
Beschränkung hat. In dieser Darstellung wiederum so un-
abhängig vom römischen Recht, als die Thatsachen und
Verhältnisse über diesem zu Grunde liegende hinausge-
schritten sind; vielmehr zum guten Theil aus den conven-
tionellen Uebungen (Usancen) seiner Subjecte selber her-
vorgegangen. Hingegen hat mit entschiedener Tendenz das
römische Recht zur Auflösung aller Gemeinschaften, welche
der Construction des Privatrechts aus handlungsfähigen In-
dividuen entgegen sind, mitgewirkt. Gemeinschaftliches
und gebundenes Eigenthum ist für die rationale Theorie ein
Unding, eine Anomalie. Der Satz, dass Niemand wider
seinen Willen in Gemeinschaft festgehalten werden kann
(Nemo in communione potest invitus detineri), schneidet dem
Rechte der Gemeinschaft die Wurzel ab. Die Familie und
ihr Recht wird nur erhalten, insoweit als sie aus rechtlich
Unmündigen bestehend gedacht wird, wodurch die Frau in
gleiche Condition mit Kindern, Kinder in gleiche mit Knech-
ten hinabsinken; der Begriff des Knechtes als des Sklaven
im freien Eigenthum (was er auch in Rom nicht war, so
lange als die res mancipi unterschieden wurden) ist der
elementare und gesellschaftliche Begriff. Indem aber endlich
auch die Frau zu gesellschaftlicher Selbständigkeit und folg-
lich zur civilen Emancipation gelangt, muss auch das Wesen
der Ehe und der ehelichen Gütergemeinschaft in einen

und brauchbares Werkzeug, und doch keinesweges, auch nur
in der Regel, mit Bewusstheit ergriffen, sondern in gutem
Glauben an seine Richtigkeit und Zweckmässigkeit. In
England hat sich dieselbe Entwicklung bis auf den heutigen
Tag ohne römisches Recht (oder doch nur unter ver-
gleichungsweise geringen Einflüssen desselben) vollzogen,
als allmähliche Ueberschattung des gemeinen (d. i. gemein-
schaftlichen) durch das statutarische (d. i. gesellschaftliche)
Recht, oder als Sieg der Principien des personalen über
die des realen Eigenthums. Das allgemeine contractuelle
Privatrecht ist nur der andere Ausdruck des allgemeinen
contractuellen Tausch-Verkehrs und wächst mit ihm, bis es
in einem codificirten Handels-, Wechsel-, See-Recht seine am
meisten adäquate Darstellung findet, welche auf sichtliche
Weise nur zufällige und durchaus provisorische nationale
Beschränkung hat. In dieser Darstellung wiederum so un-
abhängig vom römischen Recht, als die Thatsachen und
Verhältnisse über diesem zu Grunde liegende hinausge-
schritten sind; vielmehr zum guten Theil aus den conven-
tionellen Uebungen (Usancen) seiner Subjecte selber her-
vorgegangen. Hingegen hat mit entschiedener Tendenz das
römische Recht zur Auflösung aller Gemeinschaften, welche
der Construction des Privatrechts aus handlungsfähigen In-
dividuen entgegen sind, mitgewirkt. Gemeinschaftliches
und gebundenes Eigenthum ist für die rationale Theorie ein
Unding, eine Anomalie. Der Satz, dass Niemand wider
seinen Willen in Gemeinschaft festgehalten werden kann
(Nemo in communione potest invitus detineri), schneidet dem
Rechte der Gemeinschaft die Wurzel ab. Die Familie und
ihr Recht wird nur erhalten, insoweit als sie aus rechtlich
Unmündigen bestehend gedacht wird, wodurch die Frau in
gleiche Condition mit Kindern, Kinder in gleiche mit Knech-
ten hinabsinken; der Begriff des Knechtes als des Sklaven
im freien Eigenthum (was er auch in Rom nicht war, so
lange als die res mancipi unterschieden wurden) ist der
elementare und gesellschaftliche Begriff. Indem aber endlich
auch die Frau zu gesellschaftlicher Selbständigkeit und folg-
lich zur civilen Emancipation gelangt, muss auch das Wesen
der Ehe und der ehelichen Gütergemeinschaft in einen

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[245/0281] und brauchbares Werkzeug, und doch keinesweges, auch nur in der Regel, mit Bewusstheit ergriffen, sondern in gutem Glauben an seine Richtigkeit und Zweckmässigkeit. In England hat sich dieselbe Entwicklung bis auf den heutigen Tag ohne römisches Recht (oder doch nur unter ver- gleichungsweise geringen Einflüssen desselben) vollzogen, als allmähliche Ueberschattung des gemeinen (d. i. gemein- schaftlichen) durch das statutarische (d. i. gesellschaftliche) Recht, oder als Sieg der Principien des personalen über die des realen Eigenthums. Das allgemeine contractuelle Privatrecht ist nur der andere Ausdruck des allgemeinen contractuellen Tausch-Verkehrs und wächst mit ihm, bis es in einem codificirten Handels-, Wechsel-, See-Recht seine am meisten adäquate Darstellung findet, welche auf sichtliche Weise nur zufällige und durchaus provisorische nationale Beschränkung hat. In dieser Darstellung wiederum so un- abhängig vom römischen Recht, als die Thatsachen und Verhältnisse über diesem zu Grunde liegende hinausge- schritten sind; vielmehr zum guten Theil aus den conven- tionellen Uebungen (Usancen) seiner Subjecte selber her- vorgegangen. Hingegen hat mit entschiedener Tendenz das römische Recht zur Auflösung aller Gemeinschaften, welche der Construction des Privatrechts aus handlungsfähigen In- dividuen entgegen sind, mitgewirkt. Gemeinschaftliches und gebundenes Eigenthum ist für die rationale Theorie ein Unding, eine Anomalie. Der Satz, dass Niemand wider seinen Willen in Gemeinschaft festgehalten werden kann (Nemo in communione potest invitus detineri), schneidet dem Rechte der Gemeinschaft die Wurzel ab. Die Familie und ihr Recht wird nur erhalten, insoweit als sie aus rechtlich Unmündigen bestehend gedacht wird, wodurch die Frau in gleiche Condition mit Kindern, Kinder in gleiche mit Knech- ten hinabsinken; der Begriff des Knechtes als des Sklaven im freien Eigenthum (was er auch in Rom nicht war, so lange als die res mancipi unterschieden wurden) ist der elementare und gesellschaftliche Begriff. Indem aber endlich auch die Frau zu gesellschaftlicher Selbständigkeit und folg- lich zur civilen Emancipation gelangt, muss auch das Wesen der Ehe und der ehelichen Gütergemeinschaft in einen

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/281>, abgerufen am 26.04.2024.