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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 60.

Daher tritt auch jede der drei unterschiedenen Formen des sittlichen Ver-
hältnisses im Schönen anders auf, als im Guten. Da das Mißtrauen gegen1
die Sinnlichkeit hier wegfällt, weil die lebendige Gestalt dem Stoffartigen
entrückt ist, so darf sich ungleich breiter und selbständiger die erste Form ent-
falten. Dies ist der Grund, warum das Schöne insbesondere über die
dem gemeinen Leben vorgezeichneten Grenzen des Austands und der Scham
erhaben ist. In der zweiten Form darf selbst der tiefste Widerspruch im Bunde2
mit allen Kräften der Erscheinung auftreten und freigesprochen von jedem
moralischen Einschreiten stetig seinen Gipfel ersteigen, ohne Furcht, daß die
Harmonie verloren gehe, denn alle Entzweiung spielt nur auf ihrem Grunde
und es kann nicht fehlen, daß sie als Resultat des Kampfes am Ende hervor-
gehe. Bei der dritten Form jedoch als einer selbständigen zu verweilen hat3
das Schöne gerade darum, weil der Standpunkt derselben ganz der seinige ist,
weniger Interesse, als das Gute.

1. Der Kreis der unschuldigen schönen Sinnlichkeit ist zwar durch
die moderne Welt enger eingegrenzt, als im Alterthum und Mittelalter, aber
es ist darum nicht nöthig, hier schon an die Epochen des Ideals zu
erinnern, denn jede Zeit und Bildung muß der Welt der Schönheit einen
solchen Kreis vorbehalten, wie er z. B. in den römischen Elegieen von
Göthe gezogen ist. Das Leben selbst ist nothwendig mißtrauisch und
ungläubig, daß in der allgemeinen Verschlingung des Guten und Bösen
ein Kreis von gewisser Breite sich abgrenzen lasse, wo die Sinnlichkeit,
selbst die edlere und vom Gemüthe durchdrungene, aber vom besorglichen
Gesetz und der hütenden Sitte nicht anerkannte, sich frei entfalten könne,
ohne die rohe Begierde zu entfesseln und gegebene sittliche Verhältnisse
zu verletzen. Im Schönen aber als Solchem ist mit dem Stoffartigen Alles
erloschen, was am Nackten und an der Sinnlichkeit die Begierde weckt;
es ist in jener reinen Kühle untergegangen, die dem Schönen eigen ist.
Was daher die Sage der Völker in eine besondere Zeit als ein Ver-
gangenes legt, als paradiesischen Urzustand, das bleibt im Schönen
Gegenwart. Daher ist es auch entbunden von derjenigen Scham,
welche eine künstliche Bildung in die Gemüther gepflanzt hat. Vom
ethischen Standpunkte muß die conventionelle Scham als ein Fortschritt
der wahren menschlichen Natur behauptet werden; unsere wahre
Natur ist Ausbildung aller Kräfte, und an eine solche ist in dem Zu-

§. 60.

Daher tritt auch jede der drei unterſchiedenen Formen des ſittlichen Ver-
hältniſſes im Schönen anders auf, als im Guten. Da das Mißtrauen gegen1
die Sinnlichkeit hier wegfällt, weil die lebendige Geſtalt dem Stoffartigen
entrückt iſt, ſo darf ſich ungleich breiter und ſelbſtändiger die erſte Form ent-
falten. Dies iſt der Grund, warum das Schöne insbeſondere über die
dem gemeinen Leben vorgezeichneten Grenzen des Auſtands und der Scham
erhaben iſt. In der zweiten Form darf ſelbſt der tiefſte Widerſpruch im Bunde2
mit allen Kräften der Erſcheinung auftreten und freigeſprochen von jedem
moraliſchen Einſchreiten ſtetig ſeinen Gipfel erſteigen, ohne Furcht, daß die
Harmonie verloren gehe, denn alle Entzweiung ſpielt nur auf ihrem Grunde
und es kann nicht fehlen, daß ſie als Reſultat des Kampfes am Ende hervor-
gehe. Bei der dritten Form jedoch als einer ſelbſtändigen zu verweilen hat3
das Schöne gerade darum, weil der Standpunkt derſelben ganz der ſeinige iſt,
weniger Intereſſe, als das Gute.

1. Der Kreis der unſchuldigen ſchönen Sinnlichkeit iſt zwar durch
die moderne Welt enger eingegrenzt, als im Alterthum und Mittelalter, aber
es iſt darum nicht nöthig, hier ſchon an die Epochen des Ideals zu
erinnern, denn jede Zeit und Bildung muß der Welt der Schönheit einen
ſolchen Kreis vorbehalten, wie er z. B. in den römiſchen Elegieen von
Göthe gezogen iſt. Das Leben ſelbſt iſt nothwendig mißtrauiſch und
ungläubig, daß in der allgemeinen Verſchlingung des Guten und Böſen
ein Kreis von gewiſſer Breite ſich abgrenzen laſſe, wo die Sinnlichkeit,
ſelbſt die edlere und vom Gemüthe durchdrungene, aber vom beſorglichen
Geſetz und der hütenden Sitte nicht anerkannte, ſich frei entfalten könne,
ohne die rohe Begierde zu entfeſſeln und gegebene ſittliche Verhältniſſe
zu verletzen. Im Schönen aber als Solchem iſt mit dem Stoffartigen Alles
erloſchen, was am Nackten und an der Sinnlichkeit die Begierde weckt;
es iſt in jener reinen Kühle untergegangen, die dem Schönen eigen iſt.
Was daher die Sage der Völker in eine beſondere Zeit als ein Ver-
gangenes legt, als paradieſiſchen Urzuſtand, das bleibt im Schönen
Gegenwart. Daher iſt es auch entbunden von derjenigen Scham,
welche eine künſtliche Bildung in die Gemüther gepflanzt hat. Vom
ethiſchen Standpunkte muß die conventionelle Scham als ein Fortſchritt
der wahren menſchlichen Natur behauptet werden; unſere wahre
Natur iſt Ausbildung aller Kräfte, und an eine ſolche iſt in dem Zu-

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[159/0173] §. 60. Daher tritt auch jede der drei unterſchiedenen Formen des ſittlichen Ver- hältniſſes im Schönen anders auf, als im Guten. Da das Mißtrauen gegen die Sinnlichkeit hier wegfällt, weil die lebendige Geſtalt dem Stoffartigen entrückt iſt, ſo darf ſich ungleich breiter und ſelbſtändiger die erſte Form ent- falten. Dies iſt der Grund, warum das Schöne insbeſondere über die dem gemeinen Leben vorgezeichneten Grenzen des Auſtands und der Scham erhaben iſt. In der zweiten Form darf ſelbſt der tiefſte Widerſpruch im Bunde mit allen Kräften der Erſcheinung auftreten und freigeſprochen von jedem moraliſchen Einſchreiten ſtetig ſeinen Gipfel erſteigen, ohne Furcht, daß die Harmonie verloren gehe, denn alle Entzweiung ſpielt nur auf ihrem Grunde und es kann nicht fehlen, daß ſie als Reſultat des Kampfes am Ende hervor- gehe. Bei der dritten Form jedoch als einer ſelbſtändigen zu verweilen hat das Schöne gerade darum, weil der Standpunkt derſelben ganz der ſeinige iſt, weniger Intereſſe, als das Gute. 1. Der Kreis der unſchuldigen ſchönen Sinnlichkeit iſt zwar durch die moderne Welt enger eingegrenzt, als im Alterthum und Mittelalter, aber es iſt darum nicht nöthig, hier ſchon an die Epochen des Ideals zu erinnern, denn jede Zeit und Bildung muß der Welt der Schönheit einen ſolchen Kreis vorbehalten, wie er z. B. in den römiſchen Elegieen von Göthe gezogen iſt. Das Leben ſelbſt iſt nothwendig mißtrauiſch und ungläubig, daß in der allgemeinen Verſchlingung des Guten und Böſen ein Kreis von gewiſſer Breite ſich abgrenzen laſſe, wo die Sinnlichkeit, ſelbſt die edlere und vom Gemüthe durchdrungene, aber vom beſorglichen Geſetz und der hütenden Sitte nicht anerkannte, ſich frei entfalten könne, ohne die rohe Begierde zu entfeſſeln und gegebene ſittliche Verhältniſſe zu verletzen. Im Schönen aber als Solchem iſt mit dem Stoffartigen Alles erloſchen, was am Nackten und an der Sinnlichkeit die Begierde weckt; es iſt in jener reinen Kühle untergegangen, die dem Schönen eigen iſt. Was daher die Sage der Völker in eine beſondere Zeit als ein Ver- gangenes legt, als paradieſiſchen Urzuſtand, das bleibt im Schönen Gegenwart. Daher iſt es auch entbunden von derjenigen Scham, welche eine künſtliche Bildung in die Gemüther gepflanzt hat. Vom ethiſchen Standpunkte muß die conventionelle Scham als ein Fortſchritt der wahren menſchlichen Natur behauptet werden; unſere wahre Natur iſt Ausbildung aller Kräfte, und an eine ſolche iſt in dem Zu-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/173>, abgerufen am 19.03.2024.