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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Handeln über und erscheint daher immer als Verirrung des praktischen
Geistes. So verbrennen Ritterromane zuerst Don-Quixotes Gehirn, aber
erst da er auszieht, sein Ideal zu verwirklichen, wird der Narr fertig.
Hier ist der Uebergang zum eigentlichen Wahnsinn. Wenn es der Raum
gestattete, die wichtigsten Formen dieser Seelenkrankheit durchzugehen, so
könnte der im §. zuletzt ausgesprochene Satz vielfach näher bestimmt und
beschränkt werden. Entschieden hört das Komische auf bei dem Blödsinn,
denn hier geht, wie beim Kretinismus der Anknüpfungspunkt für die
Unterschiebung der Besinnung, also auch die gegensätzliche Brechung verloren.
Die andern Formen dagegen können komisch seyn, so lange es möglich
ist, vom Mitleid oder von Mitleid und Furcht zu abstrahiren. Blos die
Abstraction vom ersteren ist nöthig bei den ungefährlichen Narren und
sie erleichtern sie, wenn ihre Narrheit lustiger Art ist; die Abstraction
von beiden bei den gefährlichen Narren. Wird nun von dem Schmerz-
lichen und Verderblichen abstrahirt, so ist noch die Frage, ob in der
habituellen Seelenstörung noch das allgemeine Wesen des wahren Geistes
als Keim einer möglichen Heilung hindurchschimmere; daran anknüpfend
kann dann dem Wahnsinnigen ein mögliches Bewußtseyn seiner Ver-
kehrtheit geliehen und so seine Krankheit im Sinne der Komik angeschaut
werden, sofern nämlich dieser Keim nicht vom Standpunkte des Seelen-
Arztes, sondern nur in freier Betrachtung zu Behuf des nöthigen
Kontrastes aufgefaßt wird.

§. 161.

Das bedeutendste Gebiet des Komischen thut sich jedoch allerdings in1
derjenigen Sphäre auf, welche in der Lehre vom Erhabenen die allein geltende
war, nämlich in der Sphäre des praktischen Geistes oder des Willens.
Das Wesen des Willens ist die Freiheit und alle Verirrungen, wodurch seine
Erhabenheit dem Komischen verfällt, erscheinen als ein Herabsinken in die Natur-
nothwendigkeit, daher hier die Begriffsbestimmung St. Schützes, welche für
das Ganze des Komischen zu eng ist, in Geltung tritt: das Komische sey Wahr-
nehmung oder Vorstellung eines Spiels, das die Natur mit dem Menschen
treibe, während er frei zu handeln glaube oder strebe. Die in §. 156 be-2
hauptete weitere Ausdehnung des Komischen zeigt sich nun hier besonders, indem
auch die Thätigkeit für blos äußere Zwecke und die ihr dienende Klugheit
komisch wird ohne eine andere äußere Bedingung, als daß sie Mittel ergreife oder
auf eine Weise gehindert werde, wodurch der Zweck sich vielmehr aufhebt.


Handeln über und erſcheint daher immer als Verirrung des praktiſchen
Geiſtes. So verbrennen Ritterromane zuerſt Don-Quixotes Gehirn, aber
erſt da er auszieht, ſein Ideal zu verwirklichen, wird der Narr fertig.
Hier iſt der Uebergang zum eigentlichen Wahnſinn. Wenn es der Raum
geſtattete, die wichtigſten Formen dieſer Seelenkrankheit durchzugehen, ſo
könnte der im §. zuletzt ausgeſprochene Satz vielfach näher beſtimmt und
beſchränkt werden. Entſchieden hört das Komiſche auf bei dem Blödſinn,
denn hier geht, wie beim Kretinismus der Anknüpfungspunkt für die
Unterſchiebung der Beſinnung, alſo auch die gegenſätzliche Brechung verloren.
Die andern Formen dagegen können komiſch ſeyn, ſo lange es möglich
iſt, vom Mitleid oder von Mitleid und Furcht zu abſtrahiren. Blos die
Abſtraction vom erſteren iſt nöthig bei den ungefährlichen Narren und
ſie erleichtern ſie, wenn ihre Narrheit luſtiger Art iſt; die Abſtraction
von beiden bei den gefährlichen Narren. Wird nun von dem Schmerz-
lichen und Verderblichen abſtrahirt, ſo iſt noch die Frage, ob in der
habituellen Seelenſtörung noch das allgemeine Weſen des wahren Geiſtes
als Keim einer möglichen Heilung hindurchſchimmere; daran anknüpfend
kann dann dem Wahnſinnigen ein mögliches Bewußtſeyn ſeiner Ver-
kehrtheit geliehen und ſo ſeine Krankheit im Sinne der Komik angeſchaut
werden, ſofern nämlich dieſer Keim nicht vom Standpunkte des Seelen-
Arztes, ſondern nur in freier Betrachtung zu Behuf des nöthigen
Kontraſtes aufgefaßt wird.

§. 161.

Das bedeutendſte Gebiet des Komiſchen thut ſich jedoch allerdings in1
derjenigen Sphäre auf, welche in der Lehre vom Erhabenen die allein geltende
war, nämlich in der Sphäre des praktiſchen Geiſtes oder des Willens.
Das Weſen des Willens iſt die Freiheit und alle Verirrungen, wodurch ſeine
Erhabenheit dem Komiſchen verfällt, erſcheinen als ein Herabſinken in die Natur-
nothwendigkeit, daher hier die Begriffsbeſtimmung St. Schützes, welche für
das Ganze des Komiſchen zu eng iſt, in Geltung tritt: das Komiſche ſey Wahr-
nehmung oder Vorſtellung eines Spiels, das die Natur mit dem Menſchen
treibe, während er frei zu handeln glaube oder ſtrebe. Die in §. 156 be-2
hauptete weitere Ausdehnung des Komiſchen zeigt ſich nun hier beſonders, indem
auch die Thätigkeit für blos äußere Zwecke und die ihr dienende Klugheit
komiſch wird ohne eine andere äußere Bedingung, als daß ſie Mittel ergreife oder
auf eine Weiſe gehindert werde, wodurch der Zweck ſich vielmehr aufhebt.


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[363/0377] Handeln über und erſcheint daher immer als Verirrung des praktiſchen Geiſtes. So verbrennen Ritterromane zuerſt Don-Quixotes Gehirn, aber erſt da er auszieht, ſein Ideal zu verwirklichen, wird der Narr fertig. Hier iſt der Uebergang zum eigentlichen Wahnſinn. Wenn es der Raum geſtattete, die wichtigſten Formen dieſer Seelenkrankheit durchzugehen, ſo könnte der im §. zuletzt ausgeſprochene Satz vielfach näher beſtimmt und beſchränkt werden. Entſchieden hört das Komiſche auf bei dem Blödſinn, denn hier geht, wie beim Kretinismus der Anknüpfungspunkt für die Unterſchiebung der Beſinnung, alſo auch die gegenſätzliche Brechung verloren. Die andern Formen dagegen können komiſch ſeyn, ſo lange es möglich iſt, vom Mitleid oder von Mitleid und Furcht zu abſtrahiren. Blos die Abſtraction vom erſteren iſt nöthig bei den ungefährlichen Narren und ſie erleichtern ſie, wenn ihre Narrheit luſtiger Art iſt; die Abſtraction von beiden bei den gefährlichen Narren. Wird nun von dem Schmerz- lichen und Verderblichen abſtrahirt, ſo iſt noch die Frage, ob in der habituellen Seelenſtörung noch das allgemeine Weſen des wahren Geiſtes als Keim einer möglichen Heilung hindurchſchimmere; daran anknüpfend kann dann dem Wahnſinnigen ein mögliches Bewußtſeyn ſeiner Ver- kehrtheit geliehen und ſo ſeine Krankheit im Sinne der Komik angeſchaut werden, ſofern nämlich dieſer Keim nicht vom Standpunkte des Seelen- Arztes, ſondern nur in freier Betrachtung zu Behuf des nöthigen Kontraſtes aufgefaßt wird. §. 161. Das bedeutendſte Gebiet des Komiſchen thut ſich jedoch allerdings in derjenigen Sphäre auf, welche in der Lehre vom Erhabenen die allein geltende war, nämlich in der Sphäre des praktiſchen Geiſtes oder des Willens. Das Weſen des Willens iſt die Freiheit und alle Verirrungen, wodurch ſeine Erhabenheit dem Komiſchen verfällt, erſcheinen als ein Herabſinken in die Natur- nothwendigkeit, daher hier die Begriffsbeſtimmung St. Schützes, welche für das Ganze des Komiſchen zu eng iſt, in Geltung tritt: das Komiſche ſey Wahr- nehmung oder Vorſtellung eines Spiels, das die Natur mit dem Menſchen treibe, während er frei zu handeln glaube oder ſtrebe. Die in §. 156 be- hauptete weitere Ausdehnung des Komiſchen zeigt ſich nun hier beſonders, indem auch die Thätigkeit für blos äußere Zwecke und die ihr dienende Klugheit komiſch wird ohne eine andere äußere Bedingung, als daß ſie Mittel ergreife oder auf eine Weiſe gehindert werde, wodurch der Zweck ſich vielmehr aufhebt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/377>, abgerufen am 19.03.2024.