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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Gefühl des Zuschauers, und zwar ungleich bestimmter als im Erhabenen,
die Bewegung des plötzlichen Abreißens, indem es von dem Bestreben
der gestaltenden Natur zu der Verwicklung in Widerstrebendes, von der
Absicht und Bemühung zum wahren Sachverhalte, der sie überflüßig macht,
fortgehend sich plötzlich getäuscht findet. Man unterscheide z. B. folgende
zwei Fälle. Es weint Jemand aus wahrer Rührung. Da er aber ein
leidenschaftlicher Raucher ist, so greift er aus einem Instincte, der sich
allmählich nebenher einstellte, nach der Pfeife und raucht zum Weinen.
Oder aber er rauchte vorher, gerieth in's Weinen und beides geht
nebeneinander. Im erstern Falle ist der Uebergang plötzlich, denn wir
mögen wohl irgendwie das allmähliche Hervortreten des Bedürfnisses uns
vorstellen, aber der Eintritt des sichtbaren verkehrten Thuns ist doch ein
bestimmter Moment; im zweiten Falle fehlt dieses Plötzliche: aber im
Uebergange der Aufmerksamkeit des Zuschauers von den Thränen zum
Rauchen kann der Riß des Plötzlichen dennoch nicht fehlen. Den Grund
der Nothwendigkeit dieses plötzlichen Risses gibt der §.: er ist nöthig,
um die Mittelglieder, die an sich zwischen den Gliedern liegen, zu ver-
bergen. Somit ist eine der in §. 169 in Aussicht gestellten Bedingungen
erklärt. Dieses plötzliche Zusammenstoßen ist schon oft genug mit einem
aufblitzenden Lichte, das sich wie aus schneller Reibung erzeugt, ver-
glichen worden, und die Vergleichung ist um so passender, da ein
plötzliches Deutlichwerden des Erhabenen, eine Aufhebung des ihm un-
entbehrlichen Dunkels die Folge ist. Hier tritt das mikroskopische Sehen
ein, das in §. 87, 2 so streng vom Erhabenen abgehalten wurde.
Jetzt sind Sinne und "der alte Erzfeind des Erhabenen", der Verstand,
die Alles vereinzeln, im Rechte.

§. 174.

Allein der Begriff des Contrastes genügt nicht, er muß sich durch eine1
Bewegung, wodurch die vorher blos äußerlich zusammengerückten Glieder in-
einander
übergehen, zum Widerspruch steigern. Es muß dasselbe Subject
als Gegenstand seyn, das von dem einen Ende plötzlich auf das andere um-
springt. Würde aber dies Umspringen blos nach der Zeitfolge als ein Nach-
einander von Zuständen oder Thätigkeiten betrachtet, so würde der Widerspruch
nicht in seiner Strenge zu Tage kommen, denn die Identität des Subjects
würde hinter dieser Succession zurücktreten. Vielmehr, wenn in Kraft treten
soll, daß es dasselbe Subject ist, das diese Folge durchläuft, so muß in der

Gefühl des Zuſchauers, und zwar ungleich beſtimmter als im Erhabenen,
die Bewegung des plötzlichen Abreißens, indem es von dem Beſtreben
der geſtaltenden Natur zu der Verwicklung in Widerſtrebendes, von der
Abſicht und Bemühung zum wahren Sachverhalte, der ſie überflüßig macht,
fortgehend ſich plötzlich getäuſcht findet. Man unterſcheide z. B. folgende
zwei Fälle. Es weint Jemand aus wahrer Rührung. Da er aber ein
leidenſchaftlicher Raucher iſt, ſo greift er aus einem Inſtincte, der ſich
allmählich nebenher einſtellte, nach der Pfeife und raucht zum Weinen.
Oder aber er rauchte vorher, gerieth in’s Weinen und beides geht
nebeneinander. Im erſtern Falle iſt der Uebergang plötzlich, denn wir
mögen wohl irgendwie das allmähliche Hervortreten des Bedürfniſſes uns
vorſtellen, aber der Eintritt des ſichtbaren verkehrten Thuns iſt doch ein
beſtimmter Moment; im zweiten Falle fehlt dieſes Plötzliche: aber im
Uebergange der Aufmerkſamkeit des Zuſchauers von den Thränen zum
Rauchen kann der Riß des Plötzlichen dennoch nicht fehlen. Den Grund
der Nothwendigkeit dieſes plötzlichen Riſſes gibt der §.: er iſt nöthig,
um die Mittelglieder, die an ſich zwiſchen den Gliedern liegen, zu ver-
bergen. Somit iſt eine der in §. 169 in Ausſicht geſtellten Bedingungen
erklärt. Dieſes plötzliche Zuſammenſtoßen iſt ſchon oft genug mit einem
aufblitzenden Lichte, das ſich wie aus ſchneller Reibung erzeugt, ver-
glichen worden, und die Vergleichung iſt um ſo paſſender, da ein
plötzliches Deutlichwerden des Erhabenen, eine Aufhebung des ihm un-
entbehrlichen Dunkels die Folge iſt. Hier tritt das mikroſkopiſche Sehen
ein, das in §. 87, 2 ſo ſtreng vom Erhabenen abgehalten wurde.
Jetzt ſind Sinne und „der alte Erzfeind des Erhabenen“, der Verſtand,
die Alles vereinzeln, im Rechte.

§. 174.

Allein der Begriff des Contraſtes genügt nicht, er muß ſich durch eine1
Bewegung, wodurch die vorher blos äußerlich zuſammengerückten Glieder in-
einander
übergehen, zum Widerſpruch ſteigern. Es muß dasſelbe Subject
als Gegenſtand ſeyn, das von dem einen Ende plötzlich auf das andere um-
ſpringt. Würde aber dies Umſpringen blos nach der Zeitfolge als ein Nach-
einander von Zuſtänden oder Thätigkeiten betrachtet, ſo würde der Widerſpruch
nicht in ſeiner Strenge zu Tage kommen, denn die Identität des Subjects
würde hinter dieſer Succeſſion zurücktreten. Vielmehr, wenn in Kraft treten
ſoll, daß es dasſelbe Subject iſt, das dieſe Folge durchläuft, ſo muß in der

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[381/0395] Gefühl des Zuſchauers, und zwar ungleich beſtimmter als im Erhabenen, die Bewegung des plötzlichen Abreißens, indem es von dem Beſtreben der geſtaltenden Natur zu der Verwicklung in Widerſtrebendes, von der Abſicht und Bemühung zum wahren Sachverhalte, der ſie überflüßig macht, fortgehend ſich plötzlich getäuſcht findet. Man unterſcheide z. B. folgende zwei Fälle. Es weint Jemand aus wahrer Rührung. Da er aber ein leidenſchaftlicher Raucher iſt, ſo greift er aus einem Inſtincte, der ſich allmählich nebenher einſtellte, nach der Pfeife und raucht zum Weinen. Oder aber er rauchte vorher, gerieth in’s Weinen und beides geht nebeneinander. Im erſtern Falle iſt der Uebergang plötzlich, denn wir mögen wohl irgendwie das allmähliche Hervortreten des Bedürfniſſes uns vorſtellen, aber der Eintritt des ſichtbaren verkehrten Thuns iſt doch ein beſtimmter Moment; im zweiten Falle fehlt dieſes Plötzliche: aber im Uebergange der Aufmerkſamkeit des Zuſchauers von den Thränen zum Rauchen kann der Riß des Plötzlichen dennoch nicht fehlen. Den Grund der Nothwendigkeit dieſes plötzlichen Riſſes gibt der §.: er iſt nöthig, um die Mittelglieder, die an ſich zwiſchen den Gliedern liegen, zu ver- bergen. Somit iſt eine der in §. 169 in Ausſicht geſtellten Bedingungen erklärt. Dieſes plötzliche Zuſammenſtoßen iſt ſchon oft genug mit einem aufblitzenden Lichte, das ſich wie aus ſchneller Reibung erzeugt, ver- glichen worden, und die Vergleichung iſt um ſo paſſender, da ein plötzliches Deutlichwerden des Erhabenen, eine Aufhebung des ihm un- entbehrlichen Dunkels die Folge iſt. Hier tritt das mikroſkopiſche Sehen ein, das in §. 87, 2 ſo ſtreng vom Erhabenen abgehalten wurde. Jetzt ſind Sinne und „der alte Erzfeind des Erhabenen“, der Verſtand, die Alles vereinzeln, im Rechte. §. 174. Allein der Begriff des Contraſtes genügt nicht, er muß ſich durch eine Bewegung, wodurch die vorher blos äußerlich zuſammengerückten Glieder in- einander übergehen, zum Widerſpruch ſteigern. Es muß dasſelbe Subject als Gegenſtand ſeyn, das von dem einen Ende plötzlich auf das andere um- ſpringt. Würde aber dies Umſpringen blos nach der Zeitfolge als ein Nach- einander von Zuſtänden oder Thätigkeiten betrachtet, ſo würde der Widerſpruch nicht in ſeiner Strenge zu Tage kommen, denn die Identität des Subjects würde hinter dieſer Succeſſion zurücktreten. Vielmehr, wenn in Kraft treten ſoll, daß es dasſelbe Subject iſt, das dieſe Folge durchläuft, ſo muß in der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/395>, abgerufen am 19.03.2024.