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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 11. Lysias wider die getreidehändler.
drückt hatte, woher der ingrimm wider die getreidehändler? das kommt
hinterher heraus. den importeuren war die sache natürlich äusserst un-
erwünscht, denn wenn ihnen eine geschlossene und capitalkräftige gilde
athenischer (d. h. ortsanwesender) getreidehändler gegenübertrat, der staat
aber ihre frachten festhielt, sobald sie im Peiraieus lagen, so machten
sie nicht mehr den preis; sie waren aber eine längst bevorrechtete gilde
und waren gewohnt zwar mit grossem risico, aber mit ganz unverhält-
nismässigem gewinne zu arbeiten. Athens gesetzgebung zeigt, wie zart
man sie behandelte; die zeit der teuerung 330--27 zeigt, welche macht
sie hatten. wenn Athen politisch mächtig war, sicherte es sich die freie
verbindung mit dem Pontos und, so gut es gieng, mit den andern korn-
ländern. dann wohnten genug grosshändler und kleinhändler im Pei-
raieus, und die preise waren entweder nicht hoch, oder das volk war
doch kaufkräftig genug, sie zu zahlen. dann sind die emporoi keine
macht. aber jetzt war die zufuhr bedroht, und der frieden, der in sicht
war, gab die eroberungen des Thrasybulos preis. da galt es mit den
importeuren gut zu stehn, und ihnen opferte man zwar nicht den Anytos,
aber wol die kleinen getreidehändler, metoikoi anthropoi (was jene auch
waren) und kapeloi (was diese nicht waren, wenn man sie gewähren
liess, wie Anytos). diesem interesse dient der sprecher, und für die
grosshändler hat Lysias diese rede geschrieben.

Die rede wollen wir nun betrachten, das sophistenwerk, das nicht
als ein schaustück von pathos und ethos, um der deinotes oder kharis
willen geschrieben oder publicirt ist, sondern um den process zu ge-
winnen und dann um politische stimmung zu machen. der verfasser
liefert nur für gutes geld seine feder; die ihn bezahlten, hatten es: er
ist ein mensch ohne jede persönliche gesinnung. darum kann er hinter
dem sprecher verschwinden. dieser empfindet, dass die denuntiation, zu
deren wortführer er sich gemacht hat, etwas gehässiges hat, deshalb tut
er so, als wäre er der vertreter des stricten rechtes, spreche es nun für
die angeklagten oder gegen sie. das hatte er bei der vorverhandlung
bewiesen, als er wider den antrag auf kurzen process sprach, und bei
der krisis, wo man ihn, den angeblich für die angeschuldigten inter-
essirten, allein auftreten sah. hoffentlich ist das erste aufrichtiger ge-
meint als das zweite, denn wenn er den antrag auf eine krisis gestellt
hatte, so war es einfach seine sache, sie in die hand zu nehmen, wie
er sie jetzt führt. dann recapitulirt er die beweisaufnahme, brüsk gegen
den metoeken; aber Anytos wird mit sammtpfötchen angefasst, wie wir ge-
sehen haben. und mit grosser schlauheit wird dann die rede auf das volks-

III. 11. Lysias wider die getreidehändler.
drückt hatte, woher der ingrimm wider die getreidehändler? das kommt
hinterher heraus. den importeuren war die sache natürlich äuſserst un-
erwünscht, denn wenn ihnen eine geschlossene und capitalkräftige gilde
athenischer (d. h. ortsanwesender) getreidehändler gegenübertrat, der staat
aber ihre frachten festhielt, sobald sie im Peiraieus lagen, so machten
sie nicht mehr den preis; sie waren aber eine längst bevorrechtete gilde
und waren gewohnt zwar mit groſsem risico, aber mit ganz unverhält-
nismäſsigem gewinne zu arbeiten. Athens gesetzgebung zeigt, wie zart
man sie behandelte; die zeit der teuerung 330—27 zeigt, welche macht
sie hatten. wenn Athen politisch mächtig war, sicherte es sich die freie
verbindung mit dem Pontos und, so gut es gieng, mit den andern korn-
ländern. dann wohnten genug groſshändler und kleinhändler im Pei-
raieus, und die preise waren entweder nicht hoch, oder das volk war
doch kaufkräftig genug, sie zu zahlen. dann sind die ἔμποϱοι keine
macht. aber jetzt war die zufuhr bedroht, und der frieden, der in sicht
war, gab die eroberungen des Thrasybulos preis. da galt es mit den
importeuren gut zu stehn, und ihnen opferte man zwar nicht den Anytos,
aber wol die kleinen getreidehändler, μέτοικοι ἄνϑϱωποι (was jene auch
waren) und κάπηλοι (was diese nicht waren, wenn man sie gewähren
lieſs, wie Anytos). diesem interesse dient der sprecher, und für die
groſshändler hat Lysias diese rede geschrieben.

Die rede wollen wir nun betrachten, das sophistenwerk, das nicht
als ein schaustück von πάϑος und ἦϑος, um der δεινότης oder χάϱις
willen geschrieben oder publicirt ist, sondern um den proceſs zu ge-
winnen und dann um politische stimmung zu machen. der verfasser
liefert nur für gutes geld seine feder; die ihn bezahlten, hatten es: er
ist ein mensch ohne jede persönliche gesinnung. darum kann er hinter
dem sprecher verschwinden. dieser empfindet, daſs die denuntiation, zu
deren wortführer er sich gemacht hat, etwas gehässiges hat, deshalb tut
er so, als wäre er der vertreter des stricten rechtes, spreche es nun für
die angeklagten oder gegen sie. das hatte er bei der vorverhandlung
bewiesen, als er wider den antrag auf kurzen proceſs sprach, und bei
der κϱίσις, wo man ihn, den angeblich für die angeschuldigten inter-
essirten, allein auftreten sah. hoffentlich ist das erste aufrichtiger ge-
meint als das zweite, denn wenn er den antrag auf eine κϱίσις gestellt
hatte, so war es einfach seine sache, sie in die hand zu nehmen, wie
er sie jetzt führt. dann recapitulirt er die beweisaufnahme, brüsk gegen
den metoeken; aber Anytos wird mit sammtpfötchen angefaſst, wie wir ge-
sehen haben. und mit groſser schlauheit wird dann die rede auf das volks-

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[378/0388] III. 11. Lysias wider die getreidehändler. drückt hatte, woher der ingrimm wider die getreidehändler? das kommt hinterher heraus. den importeuren war die sache natürlich äuſserst un- erwünscht, denn wenn ihnen eine geschlossene und capitalkräftige gilde athenischer (d. h. ortsanwesender) getreidehändler gegenübertrat, der staat aber ihre frachten festhielt, sobald sie im Peiraieus lagen, so machten sie nicht mehr den preis; sie waren aber eine längst bevorrechtete gilde und waren gewohnt zwar mit groſsem risico, aber mit ganz unverhält- nismäſsigem gewinne zu arbeiten. Athens gesetzgebung zeigt, wie zart man sie behandelte; die zeit der teuerung 330—27 zeigt, welche macht sie hatten. wenn Athen politisch mächtig war, sicherte es sich die freie verbindung mit dem Pontos und, so gut es gieng, mit den andern korn- ländern. dann wohnten genug groſshändler und kleinhändler im Pei- raieus, und die preise waren entweder nicht hoch, oder das volk war doch kaufkräftig genug, sie zu zahlen. dann sind die ἔμποϱοι keine macht. aber jetzt war die zufuhr bedroht, und der frieden, der in sicht war, gab die eroberungen des Thrasybulos preis. da galt es mit den importeuren gut zu stehn, und ihnen opferte man zwar nicht den Anytos, aber wol die kleinen getreidehändler, μέτοικοι ἄνϑϱωποι (was jene auch waren) und κάπηλοι (was diese nicht waren, wenn man sie gewähren lieſs, wie Anytos). diesem interesse dient der sprecher, und für die groſshändler hat Lysias diese rede geschrieben. Die rede wollen wir nun betrachten, das sophistenwerk, das nicht als ein schaustück von πάϑος und ἦϑος, um der δεινότης oder χάϱις willen geschrieben oder publicirt ist, sondern um den proceſs zu ge- winnen und dann um politische stimmung zu machen. der verfasser liefert nur für gutes geld seine feder; die ihn bezahlten, hatten es: er ist ein mensch ohne jede persönliche gesinnung. darum kann er hinter dem sprecher verschwinden. dieser empfindet, daſs die denuntiation, zu deren wortführer er sich gemacht hat, etwas gehässiges hat, deshalb tut er so, als wäre er der vertreter des stricten rechtes, spreche es nun für die angeklagten oder gegen sie. das hatte er bei der vorverhandlung bewiesen, als er wider den antrag auf kurzen proceſs sprach, und bei der κϱίσις, wo man ihn, den angeblich für die angeschuldigten inter- essirten, allein auftreten sah. hoffentlich ist das erste aufrichtiger ge- meint als das zweite, denn wenn er den antrag auf eine κϱίσις gestellt hatte, so war es einfach seine sache, sie in die hand zu nehmen, wie er sie jetzt führt. dann recapitulirt er die beweisaufnahme, brüsk gegen den metoeken; aber Anytos wird mit sammtpfötchen angefaſst, wie wir ge- sehen haben. und mit groſser schlauheit wird dann die rede auf das volks-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/388>, abgerufen am 27.04.2024.