Adelheid sah sie groß an. Sie schien sagen zu wollen, ich schmeichle Niemand und lebe doch.
"Weil Du jung und hübsch bist, antwortete die Geheimräthin auf den unausgesprochenen Gedanken, darum ist man gegen Dich aufmerksam. Wenn Du nicht mehr jung und hübsch bist, wirst Du Dich schminken müssen. Es giebt mancherlei Schminke. Je älter man wird, mein liebes Kind, um so mehr Arbeit hat der Mensch, denn um so mehr muß man die Schwächen der andern studiren, um vor ihnen zu gelten."
"Warum muß man denn gelten wollen!" Es entfuhr ihren Lippen; sie wußte sich kaum den Sinn der Worte zu sagen, und hätte sie gern wieder ver¬ schluckt, als die Pflegemutter sie anschielte.
"Ja warum lebt man! Der Philosoph fehlt noch, der uns die Frage beantwortet."
Es entstand eine Pause. Die Salatnäpfe wur¬ den vom Dienstmädchen fortgeschafft, die Geheimräthin brachte die Tafel wieder in Ordnung, putzte die Möbel und richtete oder vertauschte die Kupferstiche an der Wand. Adelheid war emsig über eine weib¬ liche Arbeit gebeugt, es schien um ihr Gesicht zu verbergen. Vielleicht hatte der scharfe Ton der Pflegemutter sie verwundet. Es klang davon noch etwas in der kurzen Frage wieder:
"Kam das auch von Deinem Lehrer?"
"Was, Mama?"
"Daß man nicht soll gelten wollen! Herr van
Adelheid ſah ſie groß an. Sie ſchien ſagen zu wollen, ich ſchmeichle Niemand und lebe doch.
„Weil Du jung und hübſch biſt, antwortete die Geheimräthin auf den unausgeſprochenen Gedanken, darum iſt man gegen Dich aufmerkſam. Wenn Du nicht mehr jung und hübſch biſt, wirſt Du Dich ſchminken müſſen. Es giebt mancherlei Schminke. Je älter man wird, mein liebes Kind, um ſo mehr Arbeit hat der Menſch, denn um ſo mehr muß man die Schwächen der andern ſtudiren, um vor ihnen zu gelten.“
„Warum muß man denn gelten wollen!“ Es entfuhr ihren Lippen; ſie wußte ſich kaum den Sinn der Worte zu ſagen, und hätte ſie gern wieder ver¬ ſchluckt, als die Pflegemutter ſie anſchielte.
„Ja warum lebt man! Der Philoſoph fehlt noch, der uns die Frage beantwortet.“
Es entſtand eine Pauſe. Die Salatnäpfe wur¬ den vom Dienſtmädchen fortgeſchafft, die Geheimräthin brachte die Tafel wieder in Ordnung, putzte die Möbel und richtete oder vertauſchte die Kupferſtiche an der Wand. Adelheid war emſig über eine weib¬ liche Arbeit gebeugt, es ſchien um ihr Geſicht zu verbergen. Vielleicht hatte der ſcharfe Ton der Pflegemutter ſie verwundet. Es klang davon noch etwas in der kurzen Frage wieder:
„Kam das auch von Deinem Lehrer?“
„Was, Mama?“
„Daß man nicht ſoll gelten wollen! Herr van
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Adelheid ſah ſie groß an. Sie ſchien ſagen zu
wollen, ich ſchmeichle Niemand und lebe doch.
„Weil Du jung und hübſch biſt, antwortete die
Geheimräthin auf den unausgeſprochenen Gedanken,
darum iſt man gegen Dich aufmerkſam. Wenn Du
nicht mehr jung und hübſch biſt, wirſt Du Dich
ſchminken müſſen. Es giebt mancherlei Schminke.
Je älter man wird, mein liebes Kind, um ſo mehr
Arbeit hat der Menſch, denn um ſo mehr muß man
die Schwächen der andern ſtudiren, um vor ihnen zu
gelten.“
„Warum muß man denn gelten wollen!“ Es
entfuhr ihren Lippen; ſie wußte ſich kaum den Sinn
der Worte zu ſagen, und hätte ſie gern wieder ver¬
ſchluckt, als die Pflegemutter ſie anſchielte.
„Ja warum lebt man! Der Philoſoph fehlt
noch, der uns die Frage beantwortet.“
Es entſtand eine Pauſe. Die Salatnäpfe wur¬
den vom Dienſtmädchen fortgeſchafft, die Geheimräthin
brachte die Tafel wieder in Ordnung, putzte die
Möbel und richtete oder vertauſchte die Kupferſtiche
an der Wand. Adelheid war emſig über eine weib¬
liche Arbeit gebeugt, es ſchien um ihr Geſicht zu
verbergen. Vielleicht hatte der ſcharfe Ton der
Pflegemutter ſie verwundet. Es klang davon noch
etwas in der kurzen Frage wieder:
„Kam das auch von Deinem Lehrer?“
„Was, Mama?“
„Daß man nicht ſoll gelten wollen! Herr van
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/55>, abgerufen am 17.06.2024.
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