wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde. Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir verhasst" 46). Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser lustige Gesellschaft lustig geniesst, "dass er sich an dem Herzoge, seinem Freunde, seiner Gemahlin, seiner Mutter, dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik ver- sündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner Gesellschaft wählen werde" 47). Und sogar Schiller an Körner (12. August 1787): "Goethes Geist ... eine stolze philo- sophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel über- treiben 48). Goethe "hasst mit Eifer Mystik, Geschraubtheit, Verworrenheit", alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Ver- gebens macht Körner darauf aufmerksam, dass Goethes Hauptcharaktere "nicht durch konventionellen Heroismus, sondern durch Menschlichkeit interessieren". (1788) 49) Der ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil Goethe "die Würde" verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Expo- nenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich heraus- nimmt, in bissigen Xenien zu äussern, das Kreuz sei ihm fatal wie "Wanzen, Knoblauch und Tobak". Ihre auswärtigen Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitues Klopstock, Herder, Fichte und Schelling 50).
Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den Goethe als "Generalsuperintendenten und Oberhofprediger" nach Weimar berufen hat, findet: "Die Religiosität ist die höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich nicht, dass ich sie hierher rechne" 51). Aber um sich wohl zu wundern, muss man wissen, was man unter Religiosität und
wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde. Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir verhasst“ 46). Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser lustige Gesellschaft lustig geniesst, „dass er sich an dem Herzoge, seinem Freunde, seiner Gemahlin, seiner Mutter, dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik ver- sündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner Gesellschaft wählen werde“ 47). Und sogar Schiller an Körner (12. August 1787): „Goethes Geist ... eine stolze philo- sophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel über- treiben 48). Goethe „hasst mit Eifer Mystik, Geschraubtheit, Verworrenheit“, alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Ver- gebens macht Körner darauf aufmerksam, dass Goethes Hauptcharaktere „nicht durch konventionellen Heroismus, sondern durch Menschlichkeit interessieren“. (1788) 49) Der ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil Goethe „die Würde“ verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Expo- nenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich heraus- nimmt, in bissigen Xenien zu äussern, das Kreuz sei ihm fatal wie „Wanzen, Knoblauch und Tobak“. Ihre auswärtigen Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitués Klopstock, Herder, Fichte und Schelling 50).
Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den Goethe als „Generalsuperintendenten und Oberhofprediger“ nach Weimar berufen hat, findet: „Die Religiosität ist die höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich nicht, dass ich sie hierher rechne“ 51). Aber um sich wohl zu wundern, muss man wissen, was man unter Religiosität und
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wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde.
Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir
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. Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser
lustige Gesellschaft lustig geniesst, „dass er sich an dem
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dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik ver-
sündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner
Gesellschaft wählen werde“
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. Und sogar Schiller an Körner
(12. August 1787): „Goethes Geist ... eine stolze philo-
sophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung,
mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an
die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz
eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann
ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel über-
treiben
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. Goethe „hasst mit Eifer Mystik, Geschraubtheit,
Verworrenheit“, alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Ver-
gebens macht Körner darauf aufmerksam, dass Goethes
Hauptcharaktere „nicht durch konventionellen Heroismus,
sondern durch Menschlichkeit interessieren“. (1788)
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Der
ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil
Goethe „die Würde“ verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Expo-
nenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung
gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich heraus-
nimmt, in bissigen Xenien zu äussern, das Kreuz sei ihm
fatal wie „Wanzen, Knoblauch und Tobak“. Ihre auswärtigen
Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitués
Klopstock, Herder, Fichte und Schelling
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Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht
und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den
Goethe als „Generalsuperintendenten und Oberhofprediger“
nach Weimar berufen hat, findet: „Die Religiosität ist die
höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich
nicht, dass ich sie hierher rechne“
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. Aber um sich wohl zu
wundern, muss man wissen, was man unter Religiosität und
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/78>, abgerufen am 25.05.2024.
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