Während der exotorische Lehrling mit einem aus banger Erwartung, Freudenschauer und gläubigem Ernst, Demuth und Stolz gemischten Gefühle die geheimnißverhüllenden Vorhänge aufrauschen sieht und zum ersten Mal in's Innerste des Tem- pels tritt, lächelt der bereits eingeweihte Esoteriker, -- wohl wissend, wie wenig jener erfährt, was er nicht schon vorher selbst gewußt, oder doch hätte wissen können.
Erfreut, früherer kleinlicher und lästiger Obliegenheiten ent- bunden zu sein, vergißt der Losgesprochene, daß mit gewonne- nen größeren Rechten nothwendig auch zugleich umfassendere Pflichten übernommen werden, wie er doch in vielen Lehrbü- chern des Naturrechts sowohl, als der Ethik längst gedruckt hätte lesen können.
Wenn der Rekrute bei'm Exerziren nicht mehr: eins, zwei, drei! zu zählen braucht, meint er, jetzt wäre er fertig. Es kommt aber erst das Schwerste, die Schwenkungen, das Abbre- chen, Rottenfeuer, Maneuvriren, Tirailliren. Es war Manches in der Elementar-Erziehung nöthig, welches der Weitergekom- mene für überflüssig halten zu dürfen glaubt, ohne welches er aber eben kaum oder gar nicht weiter gekommen wäre. Mit Manchem muß man sich freilich für nichts und wieder nichts placken. So wird denn auch ein Rückblick auf die vorige Vor- lesung dem Gereifteren manches Läppische und Unhaltbare erge- ben. Mag auch der höhere Eßkünstler über viele der mitge- theilten Eßregeln lächeln, und sich nicht weiter daran binden.
Neunte Vorleſung. Hoͤhere Kunstregeln.
Waͤhrend der exotoriſche Lehrling mit einem aus banger Erwartung, Freudenſchauer und glaͤubigem Ernſt, Demuth und Stolz gemiſchten Gefuͤhle die geheimnißverhuͤllenden Vorhaͤnge aufrauſchen ſieht und zum erſten Mal in’s Innerſte des Tem- pels tritt, laͤchelt der bereits eingeweihte Eſoteriker, — wohl wiſſend, wie wenig jener erfaͤhrt, was er nicht ſchon vorher ſelbſt gewußt, oder doch haͤtte wiſſen koͤnnen.
Erfreut, fruͤherer kleinlicher und laͤſtiger Obliegenheiten ent- bunden zu ſein, vergißt der Losgeſprochene, daß mit gewonne- nen groͤßeren Rechten nothwendig auch zugleich umfaſſendere Pflichten uͤbernommen werden, wie er doch in vielen Lehrbuͤ- chern des Naturrechts ſowohl, als der Ethik laͤngſt gedruckt haͤtte leſen koͤnnen.
Wenn der Rekrute bei’m Exerziren nicht mehr: eins, zwei, drei! zu zaͤhlen braucht, meint er, jetzt waͤre er fertig. Es kommt aber erſt das Schwerſte, die Schwenkungen, das Abbre- chen, Rottenfeuer, Maneuvriren, Tirailliren. Es war Manches in der Elementar-Erziehung noͤthig, welches der Weitergekom- mene fuͤr uͤberfluͤſſig halten zu duͤrfen glaubt, ohne welches er aber eben kaum oder gar nicht weiter gekommen waͤre. Mit Manchem muß man ſich freilich fuͤr nichts und wieder nichts placken. So wird denn auch ein Ruͤckblick auf die vorige Vor- leſung dem Gereifteren manches Laͤppiſche und Unhaltbare erge- ben. Mag auch der hoͤhere Eßkuͤnſtler uͤber viele der mitge- theilten Eßregeln laͤcheln, und ſich nicht weiter daran binden.
<TEI><text><body><pbfacs="#f0205"n="[191]"/><divn="1"><head><hirendition="#g"><hirendition="#b">Neunte Vorleſung.</hi><lb/>
Hoͤhere Kunstregeln</hi>.</head><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>aͤhrend der exotoriſche Lehrling mit einem aus banger<lb/>
Erwartung, Freudenſchauer und glaͤubigem Ernſt, Demuth und<lb/>
Stolz gemiſchten Gefuͤhle die geheimnißverhuͤllenden Vorhaͤnge<lb/>
aufrauſchen ſieht und zum erſten Mal in’s Innerſte des Tem-<lb/>
pels tritt, laͤchelt der bereits eingeweihte Eſoteriker, — wohl<lb/>
wiſſend, wie wenig jener erfaͤhrt, was er nicht ſchon vorher ſelbſt<lb/>
gewußt, oder doch haͤtte wiſſen koͤnnen.</p><lb/><p>Erfreut, fruͤherer kleinlicher und laͤſtiger Obliegenheiten ent-<lb/>
bunden zu ſein, vergißt der Losgeſprochene, daß mit gewonne-<lb/>
nen groͤßeren Rechten nothwendig auch zugleich umfaſſendere<lb/>
Pflichten uͤbernommen werden, wie er doch in vielen Lehrbuͤ-<lb/>
chern des Naturrechts ſowohl, als der Ethik laͤngſt gedruckt haͤtte<lb/>
leſen koͤnnen.</p><lb/><p>Wenn der Rekrute bei’m Exerziren nicht mehr: eins, zwei,<lb/>
drei! zu zaͤhlen braucht, meint er, jetzt waͤre er fertig. Es<lb/>
kommt aber erſt das Schwerſte, die Schwenkungen, das Abbre-<lb/>
chen, Rottenfeuer, Maneuvriren, Tirailliren. Es war Manches<lb/>
in der Elementar-Erziehung noͤthig, welches der Weitergekom-<lb/>
mene fuͤr uͤberfluͤſſig halten zu duͤrfen glaubt, ohne welches er<lb/>
aber eben kaum oder gar nicht weiter gekommen waͤre. Mit<lb/>
Manchem muß man ſich freilich fuͤr nichts und wieder nichts<lb/>
placken. So wird denn auch ein Ruͤckblick auf die vorige Vor-<lb/>
leſung dem Gereifteren manches Laͤppiſche und Unhaltbare erge-<lb/>
ben. Mag auch der hoͤhere Eßkuͤnſtler uͤber viele der mitge-<lb/>
theilten Eßregeln laͤcheln, und ſich nicht weiter daran binden.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[191]/0205]
Neunte Vorleſung.
Hoͤhere Kunstregeln.
Waͤhrend der exotoriſche Lehrling mit einem aus banger
Erwartung, Freudenſchauer und glaͤubigem Ernſt, Demuth und
Stolz gemiſchten Gefuͤhle die geheimnißverhuͤllenden Vorhaͤnge
aufrauſchen ſieht und zum erſten Mal in’s Innerſte des Tem-
pels tritt, laͤchelt der bereits eingeweihte Eſoteriker, — wohl
wiſſend, wie wenig jener erfaͤhrt, was er nicht ſchon vorher ſelbſt
gewußt, oder doch haͤtte wiſſen koͤnnen.
Erfreut, fruͤherer kleinlicher und laͤſtiger Obliegenheiten ent-
bunden zu ſein, vergißt der Losgeſprochene, daß mit gewonne-
nen groͤßeren Rechten nothwendig auch zugleich umfaſſendere
Pflichten uͤbernommen werden, wie er doch in vielen Lehrbuͤ-
chern des Naturrechts ſowohl, als der Ethik laͤngſt gedruckt haͤtte
leſen koͤnnen.
Wenn der Rekrute bei’m Exerziren nicht mehr: eins, zwei,
drei! zu zaͤhlen braucht, meint er, jetzt waͤre er fertig. Es
kommt aber erſt das Schwerſte, die Schwenkungen, das Abbre-
chen, Rottenfeuer, Maneuvriren, Tirailliren. Es war Manches
in der Elementar-Erziehung noͤthig, welches der Weitergekom-
mene fuͤr uͤberfluͤſſig halten zu duͤrfen glaubt, ohne welches er
aber eben kaum oder gar nicht weiter gekommen waͤre. Mit
Manchem muß man ſich freilich fuͤr nichts und wieder nichts
placken. So wird denn auch ein Ruͤckblick auf die vorige Vor-
leſung dem Gereifteren manches Laͤppiſche und Unhaltbare erge-
ben. Mag auch der hoͤhere Eßkuͤnſtler uͤber viele der mitge-
theilten Eßregeln laͤcheln, und ſich nicht weiter daran binden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. [191]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/205>, abgerufen am 04.12.2023.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2023. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.